Bild nicht mehr verfügbar.

Harry Rowohlt: "Alt bin ich, erwachsen sicher nicht."

Foto: EPA/Kleinschmidt

Der Übersetzer und alte Altlinke Harry Rowohlt liebt das Kino, lehnt aber Schauspieler und mittelscharfen Senf ab. Was seine Oma Hitler am Sterbebett wünschte, wie er Nashörner beten lässt, und was sein Bart mit Old Shatterhand zu tun hat, spielte er Renate Graber vor.

STANDARD: Sie waren gar nicht am Maiaufmarsch. Was ist passiert?

Rowohlt: Ich musste nach Köln, um "Lindenstraße" zu drehen. Meine sadistische Frau hat mir aber einen Zeitungsartikel herausgelegt, wie herrlich es in Hamburg am Maiaufmarsch war. Die Abschlusskundgebung am Fischmarkt ist immer das Schönste, das Allerverzaubertste: Da hört man Äolsharfengeklingel und weiß nicht so recht, woher's kommt. Tatsächlich liegt es daran, dass der Wind die leergesoffenen Bierdosen übers Kopfsteinpflaster bläst. Wunderschön.

STANDARD: Sind Sie ein alter Linker oder ein Altlinker?

Rowohlt: Ich bin ein stinklangweiliger alter Altlinker in dritter Generation.

STANDARD: Ein 68er ...

Rowohlt: Eben nicht.

STANDARD: Doch, seit heuer 68.

Rowohlt: Das schon. Aber 1968 war für mich ein alter Hut mit alter Krempe. 1968 war mein letztes Lehrjahr bei Suhrkamp.

STANDARD: Sie sagen, Verlagschef Unseld sei ein guter Lehrherr gewesen, während Ihr Praktikum im Rowohlt-Verlag Ihres Bruders ein Straflager gewesen sei. So arg?

Rowohlt: Ja. Nur, um ein paar Symptome zu nennen: Männer durften keine Jeans tragen, Frauen keine Hosen. Und man hat hinunter geduzt und hinauf gesiezt. Da dachte ich: "Ich habe doch niemanden umgebracht. Wofür krieg ich lebenslänglich?" Von Unseld hätte ich, wäre ich Verleger geworden, zum Beispiel lernen können, dass man zu Weihnachten allen Damen im Verlag, mit denen man es schon getrieben hat, ein identes Geschenk diskret überreicht.

STANDARD: Wie viele Geschenke waren es?

Rowohlt: Selbst wenn ich das wüsste, würde ich es nicht sagen. Und apropos diskret: Ich habe unlängst unsere streikende Gewerkschaft Verdi mit einem 30-minütigen Showblock aufgemöbelt und gesagt, immer wieder von lautem Beifall unterbrochen: "Ich habe spontan beschlossen, meine Gage diskret der Streikkasse zu spendieren. Ich weiß nur nicht, wie ich das so diskret mache, dass es jeder merkt." Man kann sich vorstellen, wie das Haus tobte. Ich habe mir das Geld dann einfach nicht abgeholt.

STANDARD: Um viel Geld ist es gegangen?

Rowohlt: Weiß ich doch nicht. Wie soll ich mir eine Summe merken, die ich nicht gekriegt habe?

STANDARD: Sie sprechen vom Linken in dritter Generation, weil schon Ihr Großvater mütterlicherseits Sozialist war?

Rowohlt: Ja. Die Verwandten väterlicherseits sind nicht erwähnenswert. Bis auf meine Großmutter. Die hielt einen Jour fixe für Bremer Reeders- und Bankiersgattinnen, und sie verstummte irgendwann, was ja nicht verkehrt ist, wenn man glaubt, nach einem langen Leben alles gesagt zu haben. Nur einmal sprach sie wieder: "Was ich immer gern gekonnt hätte..." – und alle sagten: "Ssstille doch, sie ssspricht" – "...einmal scheißen wie 'ne Kuh." Dann war endgültig Ruhe. Bis zum Totenbett, da sagte sie noch: "Gott möge ihn erleuchten". Womit sie Adolf Hitler meinte.

STANDARD: Wurde nicht erleuchtet.

Rowohlt: Nee, aber an ihr lag's nicht. Sie hat es ihm ja gewünscht.

STANDARD: Sie haben 182 Bücher übersetzt, schreiben, 2012 hielten Sie 91 Lesungen, spielen in der Serie "Lindenstraße", besprechen Hörbücher, sind Kolumnist. Müsste Sie doch recht wohlhabend gemacht haben. Dennoch sagen Sie, Ihr Luxus sei der Kerbel aus Ihrem Hintergarten und mit L und R gekennzeichnete Socken. Das kann ja nicht alles sein?

Rowohlt: Wüssten Sie sonst noch was? Mit meinen vier Jobs finanziere ich mir das Übersetzen. Da verdiene ich wie eine Anglistikstudentin im dritten Semester.

STANDARD: Wie links darf man im Alter noch sein?

Rowohlt: Ich weiß es nicht.

STANDARD: Die nach Karl Marx' Haushälterin benannte Lenchen-Demuth-Stiftung für arme Schriftsteller haben Sie jedenfalls entgegen Ihren Plänen nie gegründet.

Rowohlt: Doch, für darbende und verkannte Schriftsteller. Als Paragraf Eins der Satzung habe ich den Willkürvorbehalt verankert: Im Zweifelsfall wird getan, was ich sage (lacht). Der Untertitel der Stiftung lautet: Ein Jahr Hausarrest. Im ersten Jahr wurde Ingomar von Kieseritzky unterstützt und daraus ist direkt der wunderbare Roman "Traurige Therapeuten" entstanden. Jetzt bekommt gerade mein Freund Dr. Klaus Ferentschik ein Jahr lang Geld.

STANDARD: Die NZZ nennt Sie "altlinker Bürgerschreck, großer Entertainer und Causeur". Was davon sind Sie am liebsten?

Rowohlt: Causeur klingt schön. Neulich nach einer Lesung sagte ein Herr zu mir, er fände es so schade, dass ich keine Filmkritiken mehr schreibe. Ich sagte: "Ich auch. Aber ich komme wegen meiner Reisetätigkeiten nicht in die Pressevorführungen." "Dachte ich mir", sagte er. "Sie haben immer so gut wie nichts über den Film geschrieben, aber man erfuhr trotzdem alles über den ganzen Film."

STANDARD: Das fehlt Ihnen, oder?

Rowohlt: Sehr. Das find ich das Schönste von der ganzen Welt: ins Kino gehen.

STANDARD: "Help" von den Beatles, "Indien" vom Österreicher Paul Harather sind Ihre Lieblingsfilme?

Rowohlt: Unter anderem. Ich war mal quasi Schutzpatron beim Filmfest in Braunschweig, da trug ich ins Gästebuch ein, was ich heute noch unfassbar gut finde: "Autorenkino. Regietheater. Befreiungstheologie. Alles genauso Quatsch wie mittelscharfer Senf."

STANDARD: Bei uns gibt es süß oder scharf. Alles andere ist peinlich.

Rowohlt: Ich weiß es wohl. Wenn einem der Scharfe zu scharf ist, dann nimmt man eben weniger.

STANDARD: Was gefällt Ihnen an "Indien" so gut?

Rowohlt: Allein schon dieser Satz, den man dermaßen mit ins Leben mitnehmen kann: "I bin ja in dem Sinn kein Beilagen-Esser." Ohhh.

STANDARD: Einer der schönsten Wienerischen Sätze ist: "Net bös sein." An Bösartigkeit kaum zu übertreffen.

Rowohlt: Alfred Dorfer sagt in Indien immer wieder einen Satz, der fast genauso schön ist. Er telefoniert mit seiner Freundin und verabschiedet sich laut mit: "Drei-zwo-eins: Bussi!"

STANDARD: Mir tut er da schon leid.

Rowohlt: Ein eiskaltes Händchen krampft sich ums Herz. Uaaah. Man weiß sofort: Das wird nicht gut gehen. Weil wir grad bei Indien sind: Der göttergleiche Josef Hader...

STANDARD: ...göttergleich? Sagt der Atheist?

Rowohlt: (lacht). Also, was ich an ihm so toll finde: Er sieht aus, wie er will. Er muss gar nicht spielen.

STANDARD: Sie weinen in der Lindenstraße ja auch ohne Hilfsmittel.

Rowohlt: Wurde aber nur einmal verlangt bisher. Leider. Ich hatte auch nur einen einzigen Cliffhanger (der Serienteil endet mit Kameraeinstellung auf ihn; Anm.) in der Lindenstraße – und diesen Cliff musste ich mir auch noch mit dem gottverdammten Scheiß-Sternenhimmel teilen. Spielen Sie mal gegen den Sternenhimmel an!

STANDARD: Wurden Sie wirklich im Luftschutzkeller geboren?

Rowohlt: Jawohl. Hochallee 1. Als Zehnmonatskind.

STANDARD: Sie wollten nicht zur Welt kommen.

Rowohlt: Immer, wenn ich soweit gewesen wäre, war wieder Fliegeralarm. Unlängst sah ich eine Sendung über Frühchen. Da ist mir klargeworden, warum mich Frühchen nicht interessieren: Ich als Zehnmonatskind kann mich einfach nicht in deren Problematik hinein versetzen. Frühchen? Ist doch albern, bleibt, wo Ihr seid.

STANDARD: Die sind so armwinzig...

Rowohlt: "Wie rührend", sag ich dann blasiert. Vom Scheitel bis zur Sohle: Ich bin ein Unmensch.

STANDARD: Geprägt vom Luftschutzkeller?

Rowohlt: Kann ich mir nicht vorstellen. Ist doch wurscht, unter welchen Umständen man geboren wurde. Hauptsache, man wird geboren und überlebt dann lange genug.

STANDARD: Sie erzählen gern, wie schrecklich Ihre Eltern waren. Sind Sie kokett, oder mochten Sie sie tatsächlich nicht?

Rowohlt: Meine Mutter habe ich zunächst abgöttisch geliebt, weil ich sonst niemanden hatte. Aber als ich sie dann näher kennenlernte? Nö. Als ich meinen Vater näher kennenlernte, sagte er immer, wenn ich nicht parierte, käme ich in seine Bratröhre. Ich kannte ihn ja nicht, wusste nicht, dass das ein Schmäh ist. Wer konnte mir garantieren, dass er das nicht macht? Zuzutrauen war's ihm.

STANDARD: Ihre Eltern haben geheiratet, als Sie zehn waren...

Rowohlt: Ich hielt das für etwas überstürzt. Außerdem heirateten sie am 1. Mai, statt demonstrieren zu gehen. Mein Vater war immerhin Gründungsmitglied der Gesellschaft der Freunde des neuen Russland, meine Mutter kam sowieso aus einem alten Sozi- und Kommunistenhaushalt. Mein Vater war auch Ehrendoktor der Karl-Marx-Universität Leipzig, was ihn unglaublich stolz gemacht hat, denn er hatte, weil er zwei Mal hintereinander sitzen geblieben war, nicht einmal die Mittlere Reife. Hätte er die gehabt, wäre er nicht Verleger, sondern Lehrer oder Offizier geworden. Jedenfalls war meine Mutter wahnsinnig, bösartig und dumm. Zwei dieser Eigenschaften, in welcher Zusammenstellung auch immer, erträgt man, aber alle drei, das ist zu viel. Außerdem habe ich "dumme Schauspielerin" nie gesagt: Das ist ein Pleonasmus.

STANDARD: Sehr nett. Sie sind doch selbst Schauspieler...

Rowohlt: Quatsch. Nur weil ich in der "Lindenstraße" spiele, macht mich das doch nicht automatisch zum Schauspieler.

STANDARD: Sie haben bitte auch den Sarastro gespielt, in Kurt Palms zwölfminütiger Zauberflöte 1991 in Salzburg.

Rowohlt: Joho, ich weiß gar nicht, ob ich da irgendetwas gesagt habe.

STANDARD: Palm hat Sie 1989 erstmals nach Wien geholt...

Rowohlt: Wien ist schön, da kann man bleiben. Ich habe damals bei der Brauneis am Naschmarkt versucht, meine Rolle zu lernen, das sah der Kellner und fragte: "Herr Schauspieler, kommen bittschön direkt von der Probe?" Und da er, wie alle Wiener, Zeitung las, erfuhr er von unserer Probiererei – und schon war ich befördert: "Hamma noch Eiernockerln fürn Herrn Kammerschauspieler?"

STANDARD: Ihre jüngste Übersetzung ist der "Roman in Fragen" von Padgett Powell: nur Fragen. Haben Sie über die nachgedacht?

Rowohlt: Nee, ich bin der Übersetzer. Er stellt Fragen, über die man auch trefflich zwei Tage nachdenken könnte.

STANDARD: Nicht über alle. Wie beantworten Sie seine Frage: Bekommen Sie, indem Sie altern, mehr oder weniger Haare?

Rowohlt: Weniger. Außer in der Nase.

STANDARD: Warum ist Ihnen denn Ihr Bart so wichtig? Sie wollten schon mit vier Jahren einen haben.

Rowohlt: Ja, weil ich das schön fand. Ich war auch entsetzt, als ich "Der Schatz im Silbersee" gesehen habe, die erste Karl-May-Verfilmung. Da rasierte sich Lex Barker noch während des Vorspanns. Was soll ich denn mit einem Old Shatterhand, der keinen Bart trägt? Nä. Ich hatte das die ganze Zeit mit Bart gelesen.

STANDARD: Stichwort Bart. Der Wiener Schauspieler und Schriftsteller Hermes Phettberg, den Sie auch kennen, sagte einmal, Sie sähen aus wie der Liebe Gott.

Rowohlt: Hat er das gesagt? Ich sag immer, er ist ein Engel in Menschengestalt. Der liebe Hermes war auch sehr gut in seiner Talk Show, bei ihm paarte sich Schlagfertigkeit mit ungeheurer Menschenfreundlichkeit. Einmal bat er Menschen auf die Bühne, die innerhalb den letzten 2,5 Stunden Geschlechtsverkehr hatten; da meldete sich niemand. Da sagte er: "Kann ich dann bitte einen Lügner auf die Bühne bitten?" Und dieses wunderbare Expertengespräch, das er mit Marcel Prawy über Plastiksackerl führte: Die beiden bekamen rote Ohren, so einig waren sie sich in der Wichtigkeit der Plastiksackerl .

STANDARD: Sie selbst sind Agnostiker. Glauben Sie an gar nichts?

Rowohlt sagt nichts

STANDARD: Glauben Sie vielleicht an die Literatur?

Rowohlt: Näää. Knapp vier Prozent aller unverlangt eingesandten Manuskripte werden veröffentlicht; das ist also purer Zufall, wie soll man da an die Literatur glauben? Ich hörte einmal folgendes Gerücht: Bei Piper half im Sommer eine Studentin aus. Ihr war langweilig, sie las solche Manuskripte und fand eines, von dem sie sagte: "Wenn man das von vorn bis hinten umschreibt, kann man ein Buch draus machen." Man ließ sie gewähren, und das war dann das erste Buch Gaby Hauptmanns. Als ich die fragte, was an dem Gerücht denn stimme, sagte sie: "Ach deshalb war das von vorn bis hinten umgeschrieben." Es stimmte. Ist das nicht klasse? Reiner Zufall, Literatur ist reiner Zufall.

STANDARD: Würden Sie gern an etwas glauben?

Rowohlt: Als Kind habe ich an Gott geglaubt. Damals habe ich aber auch den Osterhasen aus meinem Zimmerfenster davonspringen sehen. Und wer den Osterhasen glaubt, bei dem rennt Gott natürlich offene Türen ein. Glaubte ich heute noch an Gott, so könnte er mir nur leidtun. Wie er auf beständiges Lob angewiesen ist, dieses ständige "Lobet den Herrn."

STANDARD: Vielleicht stört es ihn eh.

Rowohlt: Dann könnte er etwas dagegen unternehmen.

STANDARD: Sie haben Gebete geschrieben: "Lieber Gott. Du bist der Boss. Amen, dein Rhinozeros."

Rowohlt: Ja, das "Gebet des Nashorns" war viele Jahrzehnte mein lyrisches Gesamt-Oeuvre. Wobei ich letzthin mit Rudi Hurzlmeier ein Schweinebuch gemacht hab; er malt, ich schreibe Zwei- und Vierzeiler dazu. Da sieht man eine junge Frau mit Kopftuch und Overall, die auf einem Korbstuhl sitzt und einem Schwein den Hintern versohlt, und das Schwein lächelt beseligt. Der Vierzeiler lautet: "Brigitte von der LPG bestraft das Schwein. Das tut zwar weh, doch ist dem Schwein dies sehr, sehr recht. Ja ja, es war nicht alles schlecht." (LPG: landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in der DDR; Anm.) Darauf bin ich mindestens so stolz wie auf das Gebet des Nashorns.

STANDARD: Sie nennen sich ein "altes Kind". Erwachsen werden Sie lieber nicht?

Rowohlt: Alt bin ich, erwachsen sicher nicht. It's never too late for a happy childhood, heißt es in einem Buch. Aus dem Satz mache ich etwas.

STANDARD: Wann ist man erwachsen?

Rowohlt: Manche sind es schon als Kinder. Eine Mitschülerin von mir, Helga Röhrs: Sie war damals schon wie heute. Wir hatten übrigens eine Mathe- und Physiklehrerin, die hatte einen ganz seltenen Sprachfehler, konnte kein n aussprechen, wenn danach ein T oder D kam, sie sagte da ein M. Eines Tages kam sie rein – wir hatten gerade eine Deutscharbeit geschrieben – und fragte: "Worüber denn?", und wir sagten im Chor: "Warum hamdelt Hamlet nicht?" Das war reines Entgegenkommen von uns.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Rowohlt: Woher soll ich das wissen? (Renate Graber, DER STANDARD, 11./12.5.2013)