Wer abseits lebt, kann entweder einen frischeren Blick auf bestehende Verhältnisse generieren, oder ihm entgleitet die Wirklichkeit vollends. Der Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf ist so eine abseitige Welt, mit schönen Villen und grünen Straßen, eine Insel der gehobenen Bürgerlichkeit im kriselnden Sozialkosmos der deutschen Hauptstadt.
In dieser ruhigen Idylle liegt das Haus am Waldsee, eine Institution, die sich seit 1946 erfolgreich um die Gegenwartskunst bemüht. In diesen Tagen leuchtet die ansonsten mit Efeu berankte Eingangsfront des Hauses, das 1922/1923 für den Fabrikanten Hermann Knobloch gebaut wurde, in bunten Quadern. "Achtung! Hier geht es in eine andere Welt", soll das wohl heißen.
Materialtransfer, Nachhaltigkeit, Recycling
Der vielfach ausgezeichnete deutsche Produkt- und Markendesigner Werner Aisslinger von internationalem Renommee hat die Gründerzeitfassade für seine Ausstellung "Home of the Future" mit einem speziellen Wollstoff überzogen. Und ein Auto, das vor dem Haus steht, gleich dazu. Die Themen des 49-Jährigen, der auch Mitbegründer des Berliner Design-Festivals DMY ist, konzentrierten sich ja immer schon auf den Materialtransfer, die Nachhaltigkeit, das Recycling, das Tuning - auf den Blick in die Zukunft, ohne die Realität dabei vollends aus dem Blick zu verlieren.
Aisslinger hat mit seinen Möbel- und Architekturarbeiten für namhafte Firmen in der Vergangenheit bewiesen, dass er die Spannung zwischen diesen Polen besonders gut austarieren kann. Der komfortable Juli Chair aus Polyurethan-Hartschaum ist so ein Beispiel für einen Mix aus ansprechender Ästhetik und gelungenem Materialtransfer, das es auch ins Museum of Modern Art (Moma) in New York geschafft hat.
Die Ausstellung in Berlin ist eine kleine Sensation, handelt es sich doch um die erste Schau, die einen Überblick zu Aisslingers Arbeit seit 1990 gibt. Wie werden wir in Zukunft wohnen? Das Haus am Waldsee bietet dem in Berlin sesshaften Aisslinger mit seinem Hang zur Kunst ein gutes Fundament, auf dem er seine Ideen und Inspirationen entspinnen kann. Denn um produktfertige Entwicklungen geht es dem Ideengeber weniger, eher um kreative Einwürfe und Anregungen. "Also das ist mein Steckenpferd - ein bisschen visionär und experimentell zu arbeiten", hat der Designer einmal gesagt. "Ich sehe meinen Beruf ein bisschen als Tätigkeit, bei der sich einer Gedanken macht, wie die Zukunft aussehen könnte."
Stühle züchten
Begrüßt wird der Zuschauer von einem im Raum schwebenden Modell des berühmten Loftcubes, den Aisslinger 2003 vorgestellt hat. Die lichtdurchflutete Minisuite mit 39 Quadratmetern ist eine Reminiszenz an die steigende Mobilität unseres Zeitalter. Der minimalistische, auf das Nötigste reduzierte Bau kann mit einem Helikopter von einem Ort zum nächsten transportiert werden.
Im nächsten Raum stellt Aisslinger seine Idee des "Chair Farmings" vor. Stühle sollen mithilfe von genetisch getrimmten Pflanzen und speziellen Metallstrukturen "gezüchtet" werden. Das Projekt bezieht sich auf die Welle des Urban Farming, die seit ein paar Jahren die Designwelt inspiriert. Aisslinger spinnt diese Idee noch weiter. Er macht aus den Küchen der Zukunft Labors, in denen man Gemüse heranziehen kann. In einem Kreislauf, der mit Fischexkrementen gedüngt wird.
Den Dingen auf den Grund zu gehen und sie in eine neue organische, symbiotische Arbeitsstruktur zu transferieren ist Teil von Aisslingers experimentellem Ansatz. Zusammen mit hochspezialisierten Unternehmen hat Aisslinger so Produkte bis zur Serienreife entwickelt. Wie zum Beispiel die Mesh Vasen, die er 2009 mit einem französischen Glasverarbeitungsunternehmen entwarf. Dabei wird das flüssige Glas in eine Form aus Glasfasertextil geblasen. So entstehen individuelle Vasen, in dem sich traditionelles Handwerk und Highend-Ausrichtung miteinander verbinden. Auch diese Vasen sind Teil der Ausstellung.
Textilien, die dem Pflanzenwuchs dienen
Die Schau ist vor allem ein buntes Ideensammelsurium, in dem sich auch deutliche Referenzen an die Pop Art und an die Formgebung der 1960er- und 1970er-Jahre erkennen lassen. Etwas zu konstruiert wirkt eine mit Textil überzogene Tribüne, auf deren Stufen der in der digitalen Welt lebende Mensch verweilen und seinen Blick auf Objekte mit verschiedenen Strukturen und Formen richten soll, um "eine analoge Erfahrung" zu machen. Zu überzeugen weiß Aisslinger dann aber wieder mit einem futuristischen Badezimmer samt Textilien, die Feuchtigkeit absorbieren und somit dem Pflanzenwuchs dienen. Wie auch mit einem modularen Bücherregal, das aus alten Bildbänden gezimmert wird.
Zum Schluss des Rundgangs durch Aisslingers Zukunft des Wohnens geht es in den schönen Park der Anlage. Dort steht der Prototyp des Wohnwürfels, dessen Modell die Schau ja auch eröffnet hatte - mit Blick auf den Waldsee. Der Loftcube beschließt die Ausstellung und weist allein durch seine Realisierung eindrücklich daraufhin, dass Utopien durchaus das Zeug dazu haben, wahr zu werden. (Ingo Petz, DER STANDARD, Rondo, 10.5.2013)