Freitag, der 13. Mai 2005, 16.49 Uhr. Eine Eiltmeldung erreicht die Nachrichtenredaktionen weltweit. Die Kriegsreporterin Galima Buchabajewa meldet sich aus der usbekischen Stadt Andischan und berichtet von Soldaten, die eine Massendemonstration mit einem Kugelhagel beenden. Buchabajewas erster Schätzung zufolge seien dabei bis zu 50 Zivilisten ums Leben gekommen. Wie sich einige Tage später herausstellte, war das aber nur der Anfang eines Blutbades. Insgesamt soll es zwischen 500 und 1.000 Todesopfer gegeben haben. Konkretere Zahlen gibt es nicht. Auch acht Jahre später verhindert das usbekische Regime eine gründliche Aufarbeitung der Zwischenfälle.

Umgeben von Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Afghanistan und Turkmenistan, ist Usbekistan 1991 aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden. Islam Karimov, ehemaliger Spitzenfunktionär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), gilt als einer der wichtigsten Akteure bei der Erlangung der Unabhängigkeit Usbekistans, die er am 31. August 1991 auch selbst ausrief. Wenige Monate später wurde er zum Staatsoberhaupt des zentralasiatischen Landes gewählt. Unabhängig von der in der usbekischen Verfassung festgelegten Begrenzung von zwei Amtszeiten regiert Karimov mittlerweile ununterbrochen seit mehr als 21 Jahren. Geprägt ist seine Regentschaft von gnadenloser Unterdrückung jedweder Opposition und vollkommener Kontrolle der Medien.

In den Monaten vor den Ereignissen von Andischan kam es in mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken zu innenpolitischen Unruhen. In der Ukraine, in Georgien und schließlich auch beim usbekischen Nachbarn Kirgisistan begehrte das Volk gegen die Staatsführung auf. In letzerem Land wurde der autoritär regierende Präsident Aska Akajew am 24. März 2005 gestürzt. Es war eine Mischung aus sozialer Unzufriedenheit und islamisch geprägtem Unabhängigkeitsbestreben, die die oppositionellen Kräfte einte und zu revolutionären Schritten animierte.

Ebenso wie Kirgisistan ist auch Usbekistan ein stark muslimisch geprägtes Land. Knapp 90 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische Muslime. Durch die permanente wirtschaftliche Not der Bevölkerung finden islamistische Extremisten einen idealen Nährboden für ihr Ziel vor, einen Gottesstaat zu errichten. Vor allem im Ferghana-Tal im Osten Usbekistans ist die Lage trist. Im Becken zwischen Tianshan- und Alai-Gebirge lebt ein Drittel der Bevölkerung auf einem Zehntel der Landesfläche. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem bei jungen Männern. Andischan liegt im Ferghana-Tal.

Bereits im November 2004 kam es zu den ersten größeren Protestaktionen in Usbekistan. Grund dafür war ein neues Gesetz, das die Rechte von Handeltreibenden beschnitt. Autos und Gebäude der Miliz wurden in Brand gesteckt, Steine geworfen und mehr soziale Gerechtigkeit gefordert. In diese Zeit fielen auch mehrere Bombenanschläge, die islamistischen Gruppierungen zugerechnet wurden.

Andischan im Ferghana-Tal:

In Andischan, der viertgrößten Stadt Usbekistans, versammelten sich am 10. Mai 2005 tausende Menschen vor dem Gerichtsgebäude, um die Freilassung von 23 jungen Männern zu fordern. Ihnen wurde vorgeworfen, Mitglieder der Akryma-Bewegung zu sein, der Kontakte zur verbotenen radikal-islamischen Organisation Hizb-ut-Tahrir (Partei der Befreiung) nachgesagt werden. Für die Demonstranten hingegen waren sie unschuldige Geschäftsleute, die ihr eigenes Handelsnetz aufbauten und so den Machtinteressen des Regimes in die Quere kamen.

Die Anzahl der Demonstranten, die das Gerichtsgebäude in Andischan umzingelten, wuchs immer weiter an, von bis zu 4.000 Personen wurde berichtet. In der Nacht des 12. Mai stürmten bewaffnete Angreifer schließlich das Gefängnis in Andischan und befreiten hunderte Gefangene, darunter auch die 23 jungen Männer. Danach lieferten sie sich Kämpfe mit der Armee. Tausende Menschen versammelten sich auf einem Platz vor dem Sitz der Regionalregierung, um für die Aufständischen und bessere Lebensbedingungen zu protestieren. Dann, berichteten Augenzeugen, schossen Soldaten aus gepanzerten Fahrzeugen wahllos in die Menge.

Damit nicht genug, wurde auch auf Menschen geschossen, die den Protest verlassen wollten. Augenzeugen zufolge verfolgten Soldaten verletzte Demonstranten und töteten sie gezielt. Viele Leichen wiesen Einschusslöcher am Hinterkopf auf. Wie viele Leichen es genau waren, das bleibt eine unbeantwortete Frage. Offiziell ist von 187 Toten die Rede. Offiziell handelte es sich aber auch um einen "grausamen Angriff von Terroristen auf eine Polizeistation", wie der usbekische Innenminister Sakir Almatow wenige Tage später verkündete. Er begleitete eine Gruppe von ausländischen Diplomaten und Journalisten durch Andischan, das direkt nach dem Blutbad abgesperrt wurde. Spuren von Kämpfen und von Leichen waren nicht mehr zu sehen. "Wie können Sie es wagen zu sagen, hier sei auf friedliche Demonstranten geschossen worden?", fragte Almatow seine Gäste. Der britische Botschafter David Moran, der bei der Visite in Andischan dabei war, hielt wenig von diesem Besuch: "Man muss realistisch erkennen, wie wenig eine solche Kurz-Tour mit großer Besetzung und wenig Zeit bewirken kann."

Offiziell war also von einem Angriff bewaffneter ausländischer Terroristen die Rede, und diese Version wurde auch von den usbekischen Staatsmedien immer wieder verkündet. Zeitgleich wurde der Empfang ausländischer TV-Sender gestört. Die wenigen ausländischen Journalisten, die sich in Andischan aufhielten, wurden auf Schritt und Tritt von Sicherheitskräften verfolgt, um zu engen Kontakt mit der Bevölkerung zu verhindern. Nichtsdestotrotz drangen Aussagen von Augenzeugen an die Weltöffentlichkeit. Sie berichteten von rund 500 Toten im Leichenschauhaus und weiteren 500 Toten, die in einer Schule aufgebahrt wurden. Eine Ärztin vor Ort sprach zudem von rund 2.000 Verletzten.

Eine internationale Untersuchung hat Usbekistan immer abgelehnt. Weitere Nachforschungen wurden so gut wie möglich unterbunden, nicht einmal das Rote Kreuz erhielt Zugang zu den Opfern. Der usbekische Menschenrechtsaktivist Jogdor Obid sagte dem STANDARD im Dezember 2005: "Keiner konnte in die Krankenhäuser und mit den Leuten reden, die dabei waren. Sogar am Friedhof stehen Soldaten, damit die Leichen nicht untersucht werden können." Trotzdem konnte Human Rights Watch 50 Opfer und Zeugen befragen. In dem daraus verfassten Bericht "Gewehrkugeln fielen wie Regen: Das Massaker von Andischan" heißt es unter anderem, dass die Schüsse der Sicherheitskräfte nicht gerechtfertigt gewesen seien.

Die internationalen Reaktionen auf das Blutbad von Andischan: Auf der einen Seite setzte es massive Kritik der westlichen Länder. Auf der anderen Seite gab es den Schulterschluss mit Russland. "Die Behauptungen, dass in Andischan auf eine friedliche Demonstration geschossen wurde, sind absurd", sagte der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanov im August 2005 nach einem Treffen mit Karimov in Moskau.

Dass auch die USA nicht mit Kritik am Vorgehen Usbekistans sparten, hatte übrigens noch weitreichende Konsequenzen. Das Regime in Taschkent entzog den Vereinigten Staaten die Nutzungsrechte für den Militärstützpunkt Karshi-Khanabad. Diesen hatten die USA seit Herbst 2001 für Operationen in Afghanistan verwendet.

Weitere Konsequenzen waren Flüchtlingswellen von Usbeken und Prozesse in Taschkent, in denen sich mehrere Demonstranten von Andischan verantworten mussten. Ihnen wurde vorgeworfen, einen islamistischen Aufstand organisiert und dabei Zivilisten und Sicherheitskräfte getötet zu haben. Zahlreiche Zeugen bestätigten die amtliche Version, es heißt, sie wurden von den Behörden unter Druck gesetzt.

Eine Zeugin allerdings brachte den Mut auf, zu widersprechen. "Aus Respekt vor den Getöteten muss ich die Wahrheit sagen", sagte Machbuba Sokirowa bei ihrer Aussage im Oktober 2005. Sie wundere sich über die Aussagen der anderen Zeugen, denn ihrer Meinung nach hätten Sicherheitskräfte wahllos in die Menge der unbewaffneten Demonstranten geschossen. Der Generalstaatsanwalt verwies auf die anderen Zeugenaussagen, doch Sokirowa blieb bei ihrer Aussage: "Einer der Männer, den Sie als Terroristen beschreiben, ist tot. Er wurde von einem Soldaten erschossen, als er meinen acht Monate alten Sohn rettete. (...) Ich weiß, dass ich die Einzige bin, die so etwas sagt. Verhaften Sie mich dafür?" Das weitere Schicksal von Machbuba Sokirowa ist nicht bekannt. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 13.5.2013)