Sobald man merkt, dass man seine Freunde und seinen Partner vernachlässigt, ist professionelle Hilfe nötig, sagt Psychotherapeut Raphael Bonelli.

Foto: Raphael M. Bonelli

Hat man den eigenen Pornokonsum nicht mehr unter Kontrolle, so ist man einer von rund 40.000 Cybersexsüchtigen in Österreich. Der Neurowissenschaftler und Psychotherapeut Raphael Bonelli hat in seiner Arbeit fast täglich mit dieser relativ jungen Suchterkrankung zu tun.

derStandard.at: Seit wann gibt es das Krankheitsbild der Cybersexsucht?

Bonelli: Die Sexsucht gibt es ja schon lange, aber die Erkenntnis, dass sie sich durch das Internet nochmals potenzieren kann, ist relativ neu. Heutzutage haben Menschen mit außergewöhnlichen sexuellen Interessen die Möglichkeit, ihre Partner ganz einfach per Mausklick zu rekrutieren und ihre Vorlieben im Rahmen von pornografischen Darstellungen auszuleben.

derStandard.at: Wann wird der Pornokonsum zum Problem?

Bonelli: Ab dem Moment, in dem man damit vor der Realität flüchtet, darunter zu leiden beginnt und die Kontrolle darüber verliert. Wenn es zu viel Aufwand ist, den besten Freund anzurufen und mit ihm auf ein Bier zu gehen, sondern man nur mehr auf den Knopf drücken und sein Bedürfnis befriedigen will.

Viele Betroffene fallen immer tiefer hinein und bekommen große Schwierigkeiten, wenn sie am Arbeitsplatz oder vom Partner erwischt werden. Sie tun etwas, das sie nicht wollen und worüber sie sich im Nachhinein grün und blau ärgern. Einer meiner Patienten hat bis zu sieben Stunden pro Tag damit verbracht und meistens zwei oder drei Videos gleichzeitig geschaut. Er kam nicht aus religiösen Gründen zu mir, sondern ganz einfach, weil er sagte: Ich brauche die sieben Stunden für andere Dinge.

derStandard.at: Wie sieht der typische Betroffene aus? 

Bonelli: Fast ausschließlich männlich. Es gibt schon auch betroffene Frauen, aber die stimulieren sich im Allgemeinen weniger an Bildern als an Geschichten - Stichwort "Shades of Grey". In die Cybersexsucht kippen vor allem Single-Männer, viele mit frustrierenden Kurzzeitbeziehungen, aber auch erstaunlich viele Verheiratete. Mein ältester Patient ist 60, das Durchschnittsalter liegt bei etwa 40. Es sind keine Spinner, die fernab jeglicher Realität sind, sondern Menschen in der Mitte der Gesellschaft, die sich schämen und ihre Sucht vor jedem geheim halten müssen. Eigentlich leben wir in einer liberalen Gesellschaft, aber dieses Thema wird extrem tabuisiert.

derStandard.at: Welches Ausmaß hat die Erkrankung in Österreich?

Bonelli: Groben Schätzungen zufolge gibt es hier etwa 40.000 Betroffene. Studien zeigen, dass etwa 75 Prozent der männlichen und 40 Prozent der weiblichen Internet-User Sexualität konsumieren,  zwei Prozent davon in einer suchtartigen Dimension. Die Ursachen sind vielfältig, aber bei fast allen Betroffenen liegt ein Beziehungsproblem vor.

derStandard.at: Ab welchem Zeitpunkt braucht man professionelle Hilfe, und wo findet man sie?

Bonelli: Wenn man merkt, dass man seine Freunde und seinen Partner vernachlässigt oder man sogar seine Beziehung verliert. Wenn man spürt, wie die Sucht das eigene Leben verarmt und man allein nicht mehr davon loskommt. Alle meine Patienten haben jahrelang versucht, das mit sich selbst auszumachen und sich zu befreien, es aber nicht geschafft.

Eine Einrichtung, die eigens darauf spezialisiert ist, gibt es meines Wissens nicht. Viele meiner Patienten wurden von ihren vorherigen Therapeuten abgewiesen mit der Begründung: "Da kann ich nichts für Sie tun, das ist Ihr Vergnügen." Die Kollegen haben Berührungsängste, weil sie das Suchtverhalten nicht anerkennen oder das Gefühl haben, eine Behandlung wäre mit Moralisieren gleichzusetzen. Dabei brauchen Betroffene unbedingt Hilfe: Meine Erfahrung ist, dass Selbstheilung bei einer echten Suchtdimension meistens nicht gelingt.

derStandard.at: Wie sieht die Therapie aus?

Bonelli: Ich als systemischer Psychotherapeut versuche, die Beziehungsdimension zu stärken. Oft ist die Sucht ja eine dysfunktionale Kompensation von Eheproblemen, die die Lösung dann aber erst recht verunmöglicht. Die meisten Therapeuten gehen mit dem Klienten auf die Suche nach Ressourcen, die dem Menschen möglich machen, das Leben zu leben, das er eigentlich leben will. Denn in der Cybersexsucht will keiner stecken bleiben.

derStandard.at: Wie steht es um den Therapieerfolg? 

Bonelli: Die Therapie ist überraschend erfolgreich, viel erfolgreicher als jene von anderen Suchterkrankungen wie Alkoholismus oder Medikamentenabhängigkeit. Ich wundere mich immer wieder, wie schnell das gehen kann - allein das Aussprechen der Problematik, die man innerlich selbst verdrängt hat, ruft schon enorme Selbstheilungskräfte hervor. Fast alle meine Patienten sind nach wenigen Monaten völlig frei und merken dann erst, wie unfrei sie waren. Rückfälle gibt es nur wenige.

derStandard.at: Kann man sich auf Dauer von der Sucht befreien, oder bleibt man sein Leben lang gefährdet?

Bonelli: Ich denke, man kann von der Cybersexsucht wirklich wegkommen. Das Wort "endgültige Heilung" verwende ich aber ungern, weil im Leben nichts endgültig ist. Ich kenne einige Betroffene, die das Problem lange hatten, nun aber schon viele Jahre davon frei sind. Auch ein kurzer Rückfall ist nicht die große Katastrophe, sondern es ist die Frage, wie lange man sich darin verheddert. Ziel ist es, dass die Betroffenen wieder ein gesundes Leben führen können, ohne sich selbst, ihre Beziehung oder ihren Arbeitsplatz zu gefährden.

derStandard.at: Die Gesellschaft wird immer sexualisierter, manche Experten sprechen von einer "Generation Porno". Was empfehlen Sie Eltern im Umgang mit ihren Kindern im Hinblick auf Pornografie?

Bonelli: Ich rate dringend, auf jedem Rechner im Haus Schutzprogramme zu installieren und die Computer so aufzustellen, dass sie für jeden einsichtig sind. So kann man weitgehend verhindern, dass die Kinder zufällig auf diese Seiten stoßen. Ich war in der Therapie am Anfang ein Gegner dieser Blockierprogramme, weil alles Verbotene umso verlockender erscheint. In der Zwischenzeit weiß ich aber, dass eine schwache Minute so viel Aufbauarbeit kaputt machen kann, dass man es besser gar nicht so weit kommen lässt. (Florian Bayer, derStandard.at, 6.6.2013)