
Das Dilemma einer höheren Tochter (Julia Bernat) zeigt sich im Festwochen-Gastspiel zugleich als Theater wie auch als Film.
Wien - Aus der Sicht einer Tochter aus hohem Haus, die nicht viel mehr zu tun hat, als auf der Finca ihres Vaters mittelmäßig lustige Partys zu feiern, ist der nette Chauffeur, Hausangesteller ihres Vaters, unerreichbar. Umgekehrt verhält es sich ebenso. Die Grenzen, die Hautfarben heute noch zwischen Menschen ziehen, genauso wie das Geld und die soziale Stellung, schreitet die Compagnie Vértice de Teatro aus Rio de Janeiro in ihrem Stück Julia auf abenteuerliche Weise ab.
Die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy hat August Strindbergs Drama Fräulein Julie in die brasilianische Gegenwart übertragen, in der die Geschichte des Kolonialismus das gesellschaftliche Gefälle nach wie vor prägen: Viele Hausangestellte der Upper Class sind Schwarze oder Mestizen.
Julia und Jelson, die Protagonisten des Festwochen-Gastspiels, finden einander trotz dieser sozialen Kluft anziehend; schon zehn Minuten nach Beginn haben sich die beiden Schauspieler Julia Bernat und Rodrigo dos Santos nackt ineinander verkeilt. Wie unterschiedlich allerdings ihre Welten sind, bleibt unverborgen: Noch während des Akts umreißt der ehrgeizige Unterschicht-Mann stöhnend seine Zukunftspläne im Tourismusgewerbe. Julia findet das - in der Hitze des Gefechts - weniger prickelnd. Als sie auf die geplante Flucht ihren Vogelkäfig samt Inhalt mitnehmen möchte, geht Jelson dem lieben Piepmatz an die Gurgel. "Wir haben keine Zeit für Szenen!"
Solche schrägen Manöver machen den Strindberg'schen Grundkonflikt auf ganz heftige und schockierende Weise deutlich: Es gibt kein gemeinsames Leben zweier getrennter Menschen.
Abenteuerlich ist dieses Gastspiel aber nicht nur dank seiner unberechenbaren Schauspieler, die in ihrer exzesshaften Begegnung rege Alkohol konsumieren: Regisseurin Jatahy erzählt das alles zugleich als Theater und Film. Die Cinemascope-Leinwand tut sich wie eine Schiebetür auf, durch die die Schauspieler die echten Kulissen (Küche, Schlafzimmer) betreten. Das fallweise Vergrößern der dargestellten Realität (Close-ups) unterstreicht die Intimität dieses brutalen Kammerspiels, das stets aus der Rolle fällt. Hier wird weniger um Empathie gerungen als Anschaulichkeit erzeugt. Der Kameramann (David Pacheco) ist dabei das sichtbar gemachte Instrument der Distanz zur Handlung.
Die Compagnie Vértice de Teatro war bereits 2008 bei den Festwochen zu Gast (Die Lücke, die uns bewegt). Man sollte sie im Auge behalten. Ihre Mischung aus Vitalität, technischer Brillanz und Kühnheit stellt die alten Stoffe auf ganz neue Beine. (Margarette Affenzeller, DER STANDARD, 15.5.2013)