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"In Weißrussland hat der Frühling ein wenig Verspätung", sagt Kultphilosoph Valentin Akudowitsch.

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Standard: Sie stammen aus Belarus oder Weißrussland, wie das osteuropäische Land hierzulande genannt wird. Wenn Sie jemandem erklären müssten, was das für ein Land ist - wie würden Sie das tun?

Akudowitsch: Traditionellerweise bezeichnet man Weißrussland als das Land der tausend Seen und Wälder. Zudem haben wir viele Sümpfe. Weißrussland ist auch nicht arm an Industrie. Aber die Hauptsache an unserem Land sind keine Wälder und Fabriken, sondern ist Aljaksandr Lukaschenka. Der Präsident ist so etwas wie unsere Hausmarke. Wenn ich die Frage also in einem Satz beantworte: Wir sind das Land, wo es den " letzten Diktator Europas" gibt - und der liebt es, in die österreichischen Alpen zum Skiurlaub zu fahren.

Standard: Die Weißrussen wurden in ihrer Geschichte von Imperien wie Polen oder Russland geprägt. Aufgrund ständig wechselnder Herrscher musste man lernen, sich anzupassen. Ist diese Überlebensstrategie ein Grund für die Stabilität der heutigen Diktatur?

Akudowitsch: Richtiger wäre es zu sagen, dass unsere Mentalität und Kultur unter der Spannung der lateinischen und byzantinischen Kultur ausgeformt wurde. Die wechselnde Dominanz dieser Kulturen lässt sich das ganze letzte Jahrtausend hindurch beobachten. Deswegen sieht man selbst in der kleinsten Stadt bei uns eine katholische Kirche und eine orthodoxe. Mit dieser Toleranz haben wir uns viel Gutes, aber noch mehr Böses eingehandelt. Jede geopolitische Veränderung bedeutete eine neue Apokalypse mit gewaltigen Verlusten in der Bevölkerung. So wie in den Polnisch-Moskowitischen Kriegen im 17. Jahrhundert oder im Zweiten Weltkrieg, in dem jeder vierte Weißrusse umkam. Unsere Vorfahren konnten diese Katastrophen nicht aus eigener Kraft abwenden. Deswegen lernten sie, sich entsprechend anzupassen. Und der erste Lehrsatz dabei hieß: Wenn du deinen Gegner nicht bezwingen kannst, sitz still wie eine Maus im Gebüsch. Natürlich sind Leute mit so einer Mentalität leicht von Diktatoren zu beherrschen.

Standard: Präsident Aljaksandr Lukaschenka regiert das Land seit 1994. Weißrussland selbst existiert als unabhängiger Staat erst seit 1991. Die halbwegs demokratische Erfahrung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion währte also nicht sonderlich lange. Warum ist der demokratische Wille so schwach ausgebildet?

Akudowitsch: Bis 1991 hatten wir keine einzige Erfahrung mit einer staatlichen Unabhängigkeit. Die Erinnerung an das Leben im Großfürstentum Litauen und im polnisch-litauischen Doppelstaat, zu denen ja auch der weißrussische Kulturraum zählte, wurde unter dem Einfluss des Zarenreiches und des Kommunismus fast vollkommen zerstört. Dort gab es ja gewisse politische Freiheiten wie das Magdeburger Stadtrecht. Also mussten wir uns erst mal daran gewöhnen, ein eigenes Land zu haben. Zum Zweiten kennen wir Weißrussen keine anderen politischen Systeme als das autokratische. Wir haben nicht gelernt, die Macht des Königs, des Zaren, der kommunistischen Partei, der Besatzer oder eben des Präsidenten zu begrenzen. Darüber hinaus hatten wir keine Ahnung von politischer Kultur und im Speziellen von der Demokratie. In der kurzen Zeit der Freiheit zwischen 1991 und 1994 haben wir versucht, das alles sehr schnell zu lernen. Und die Präsidentenwahl 1994 war da wohl auch so etwas wie ein erster Test, bei dem wir - wie auch die kommenden Jahre zeigten - kläglich versagt haben.

Standard: Lukaschenka hat lange eine Art neosowjetisches Identitätsmodell gefördert. Nun aber, wo die Alten langsam aussterben, scheint es, dass ihm kein neues Modell einfallen will. Könnte diese Leerstelle, die sich da abzeichnet, zur Gefahr für das Regime und zur Hoffnung für die Demokratie werden?

Akudowitsch: Ich würde einen möglichen Wandel nicht damit erklären, dass ein Teil von Lukaschenkas Elektorat mit dieser alten sowjetischen Welt nichts mehr anfangen kann. Das Wesentliche sehe ich an einem anderen Punkt. In den 20 Jahren der Lukaschenka'schen Herrschaft haben sich die Weißrussen verändert. Sie sind andere Menschen geworden. Aber Lukaschenka selbst hat sich nicht verändert. Deswegen kann er den Weißrussen auch nichts Neues anbieten. Nun aber regiert die Angst. Denn Lukaschenka hat ein perfektes repressives System erschaffen. Seine alte Wählerschaft, die ihn wegen nostalgischer Gefühle unterstützt hat, braucht er gar nicht mehr. Er kann sich mithilfe von Repressionen an der Macht behaupten.

Standard: In Ihrem Buch "Der Abwesenheitscode" schreiben Sie, dass die Weißrussen keine ethnokulturelle Nation formen werden, sondern sich an ein soziales Fundament für ihre künftige Nation halten sollten. Wie ist das zu verstehen?

Akudowitsch: Als Nation sind die Weißrussen im Schoß des Dorfes herangereift. Wir haben eine ländliche Kultur. Dieses Dorf ist ziemlich arm, da es durch zahlreiche Katastrophen und Kriege immer wieder zerstört wurde. Daher basieren unsere Werte auf dem, was uns geholfen hat zu überleben. Ethnische Selbstbehauptung, Kultur und Sprache gehören nicht dazu. Aber all das - verkürzt gesagt -, was soziale und materielle Bedeutung hat. Diese Konzentration auf soziale Überlebensmechanismen haben sich viele Weißrussen bis zum heutigen Tag erhalten. Zum Beispiel: Wenn es eine Wirtschaftskrise gibt, wird nicht gleich das große politische Bild zur Verantwortung gezogen. Vielmehr entwickelt der Weißrusse erstaunliche Strategien, um sein materielles Überleben zu sichern. Der Nachteil ist, dass so eben keine ethnokulturelle Nation entstehen kann, an die noch die national-demokratischen Kräfte Anfang der Neunziger geglaubt haben. Ich halte folgendes Modell für unser Land denkbar: Es gibt Gesetze, an die sich alle halten. Sprache, Kultur, Religion und sonstige Dinge sind frei wählbar.

Standard: Eine etwas andere Frage: Sie wirken sehr inspiriert und frei. Kann man in einer Diktatur frei und glücklich leben?

Akudowitsch: Ich bin tatsächlich frei und glücklich. Glücklich, weil ich helfen kann, ein neues Land zu gestalten. Frühere Generationen von Weißrussen konnten davon nur träumen. Aber natürlich kann man nicht sorgenfrei in einer Diktatur leben, wenn man an die Freiheit glaubt. Die Bezeichnung "der letzte Diktator Europas" ist auch eher eine Metapher. Die Politikwissenschaft würde das weißrussische Regime als eine brutale Ausformung eines autokratischen Systems bezeichnen, das mit diktatorischen Elementen agiert. Ich will das Regime Lukaschenka nicht schönreden. Aber man muss halt sehr genau hinschauen. Trotz aller Repression ist das Regime löchrig wie ein Gitter. Deswegen: Wenn du dich nicht im Gitter verfängst, kannst du auch ein freier Mensch sein - wenn du es denn willst.

Standard: Die Mehrheit der Belarussen spricht im Alltag Russisch. Sie sprechen und schreiben Belarussisch. Was sagt das über jemanden aus, der Belarussisch zu seiner Alltagssprache macht?

Akudowitsch: Ich träume sogar auf Weißrussisch. Tief in ihrer Seele schämen sich viele Weißrussen, dass sie sich nicht in ihrer Muttersprache ausdrücken können. Andererseits machen sie auch keine großen Anstrengungen, das Weißrussische häufiger anzuwenden. Eben weil die Sprache keinen sonderlich hohen Stellenwert hat. Zweifelsohne ist die weißrussische Sprache das stärkste politische Erkennungsmerkmal unserer Gesellschaft. Jemand, der Weißrussisch spricht, wird sofort als Gegner Lukaschenkas wahrgenommen. Er wird zu den Nationalisten und zu denen gezählt, die irgendwann als Feind Lukaschenkas im Gefängnis landen.

Standard: Im Kampf um die Demokratie wirken die Weißrussen recht lethargisch. Ist eine Situation denkbar, in der die Weißrussen die Demokratie als Hoffnung für sich entdecken und dafür kämpfen werden?

Akudowitsch: In unserer modernen Welt ist die Demokratie wie eine Jahreszeit, wie der Frühling. Sie kommt nicht, weil man für sie kämpft, sondern weil es Zeit für sie ist. In Weißrussland hat der Frühling ein wenig Verspätung. Aber ich denke nicht, dass der Frühling ganz an uns vorübergehen wird. Und ich glaube auch nicht, dass wir noch lange warten müssen. Wir sind bereit. (Ingo Petz, DER STANDARD, 18./19.5.2013)