Die Studentin Mina und Felix, der zuletzt in Notschlafstellen übernachtet hat, sind bereits in die neue Wohngemeinschaft eingezogen.

Foto: Heribert Corn

Wien - Die Ecken übernimmt der Architekt lieber selbst. "Die sind ein bisschen knifflig", sagt Alexander Hagner und tackert ein kleines dünnes Brett mit blau-orangem Aufdruck an die Decke, "bei den geraden Flächen helfen aber alle mit." Und mit "alle" meint Hagner wirklich alle: vom Obdachlosen bis zur ehemaligen LiF-Chefin Heide Schmidt, von der Studentin bis zur Vinzirast-Obfrau Cecily Corti.

Kurz vor der Eröffnung des Hauses "Vinzirast mittendrin" in der Wiener Währinger Straße ist jeder willkommen, der bereit ist anzupacken - vor allem im Erdgeschoß. Das dort untergebrachte Lokal soll nämlich gänzlich mit kleinen bunten Brettern ausgekleidet werden. In der Werkstatt bearbeiten ein paar Freiwillige das Rohmaterial, das von alten Obstkisten stammt. Im künftigen Beisl wird seit Tagen wie wild getackert. "Ich finde, diese Wände passen sehr gut zum Gesamtkonzept der Vinzirast mittendrin", sagt Hagner "durch das Arbeiten in der Gemeinschaft wird aus etwas Altem etwas Neues".

Im Biedermeierhaus, das lange leer stand und einst eine Kinderwagenmanufaktur war, werden künftig 27 Studenten und Obdachlose leben - auf drei Stockwerken, in gemischten Dreier-WGs. Drei Jahre lang hat der Verein Vinzirast-Cortihaus mit Studierenden, Obdachlosen und Hagners Architekturbüro Gaupenraub am Projekt gearbeitet. Diesen Donnerstag wird das Haus offiziell eröffnet. "Wir verfolgen ein völlig offenes Konzept", sagt Vereinsobfrau Corti, "die Kompetenz liegt gänzlich bei den Bewohnern."

Statt Sozialarbeitern stellt Vinzirast den Mietern sogenannte Begleiter zur Seite. Sie sollen Ansprechpartner für alle sein, sich aber so wenig wie möglich ins Zusammenleben einmischen. "Die Idee ist, dass sich das Haus selbst organisiert - wir vertrauen gänzlich auf die Gemeinschaft", sagt Architekt Hagner. Sollte man merken, dass dies nicht funktioniere, werde man einen Heimleiter einsetzen.

Scheitern wäre fatal

Ein Scheitern des Projektes wäre fatal. Denn neben vielen unbezahlten Arbeitsstunden steckt auch jede Menge Geld in der Vinzirast mittendrin. Das Haus hat der Industrielle Hans Peter Haselsteiner gekauft und Cortis Verein geschenkt. Für den aufwändigen Umbau hat Vinzirast, die auch eine Notschlafstelle in Meidling betreibt, einen Kredit aufgenommen. Daneben trudelten viele Materialspenden ein - von der Einbauküche bis zum Bretterboden.

Die Idee zum Studierenden-Obdachlosen-Wohnheim entstand 2009: Als Studenten das Audimax der Uni Wien besetzten, um für bessere Studienbedingungen zu demonstrieren, quartierten sich dort auch einige Obdachlose ein. Für ein paar Wochen kochte, lebte und protestierte man gemeinsam. "Als die Besetzung vorbei war, haben wir beschlossen, uns weiter um diese Leute zu kümmern", sagt Studentin Karin Stanger, die im Audimax dabei war und jetzt bei der Vinzirast mithilft. Nach vielen Gesprächen mit Obdachlosen-Einrichtungen landeten die Studenten schließlich bei Haselsteiner und Vinzirast. "Ich glaube, das ist weltweit das einzige Projekt, bei dem Studenten und Obdachlose zusammenleben", sagt Hagner, "uns ist klar, dass es viel Konfliktpotenzial gibt."

Die meisten Bewohner sind bereits eingezogen. Sie zahlen zwischen 280 und 350 Euro für ein WG-Zimmer. Ein regelmäßiges Einkommen wie die Mindestsicherung ist also Voraussetzung. In den einzelnen Werkstätten - von der Fahrradreparatur bis zur Schneiderei - können sich sämtliche Bewohner ein Zubrot verdienen. Felix, der zuvor einige Monate in einer Notschlafstelle übernachtet hat, will eineinhalb Jahre bleiben. "Dann habe ich Anspruch auf eine Gemeindebauwohnung", sagt er. Mit den Studierenden lebe es sich bisher ganz gut unter einem Dach.

Lernen abseits der Uni

Das bestätigt auch Mina, die ein Medizinstudium abgeschlossen und nun internationale Entwicklungen inskribiert hat. "Man kann hier einiges lernen - ich habe schon sehr viele unglaubliche Geschichten gehört." Das Einzige, was sie wirklich störe, sei das Rauchen: "Dass man im Haus fast überall eingenebelt wird, halte ich als militante Nichtraucherin nur schwer aus." Im Lokal im Erdgeschoß, in dem auch Nichtbewohner willkommen sind, herrscht übrigens Rauchverbot. Gekocht wird biologisch, ohne Fritteuse und Mikrowelle. (Martina Stemmer, DER STANDARD, 21.5.2013)