Als Bulgarien 2007 in die Europäische Union aufgenommen wurde, erschien eine Sonderbeilage in Wien mit dem Titel "Ein Armenhaus voll Hoffnung auf bessere Zeiten" . Die Euphorie des Jahres 2007 ist indessen längst verflogen. Nach dem Patt bei den vergangenen Wahlen befindet sich das ärmste und korrupteste Land in der EU in einer fast ausweglosen politischen Krisensituation.

Die turbulente Geschichte der vergangenen Monate seit dem durch die beispiellosen Massenproteste erzwungenen Sturz der Borissow-Regierung bestätigt den Befund des Autors Jürgen Roth in seinem bereits 2008 veröffentlichten Buch Die neuen bulgarischen Dämonen. Die Tragödie der heutigen bulgarischen Gesellschaft wurzle in der "ungebrochenen Herrschaft eines Geflechts politischer, wirtschaftlicher und krimineller Kreise, von Geheimdiensten kontrolliert und von blau­äugigen Europapolitikern geduldet" .

1989 gab es keine echte Wende. Der langjährige kommunistische Partei- und Staatschef Todor Schiwkow wurde durch eine von Gorbatschow gebilligte Palastrevolte entmachtet. Die alten Seilschaften teilten nachher das Land untereinander auf. Während der ersten Privatisierungswelle in den Neunzigern haben nach Schätzungen von Wirtschaftsexperten miteinander rivalisierende Machtkartelle neunzig Prozent von möglichen 30 Milliarden Dollar Erlös in die eigenen Taschen gesteckt. Über das endgültige Schicksal der Milliarden aus den EU-Strukturfonds gibt es auch düstere Prognosen.

Der bullige, stoppelhaarige einstige Karate-Champion, Leibwächter Schiwkows und des zurückgekehrten Zars (Simeon II.), Exbürgermeister von Sofia und Ministerpräsident Bojko Borissow (2009 bis Februar 2013) scheint trotz starker Stimmenverluste auch nach den Wahlen der dominierende Politiker zu bleiben. Er hat zwar versucht, die EU-Richtlinien für die finanzielle Stabilität umzusetzen, aber der Preis für die verarmte Bevölkerung war viel zu hoch.

Bei einem Durchschnittsgehalt von 350 Euro monatlich und einer Rente von 140 Euro (jeder fünfte Pensionist bekommt nur zwischen 51 und 74 Euro!) und angesichts der Verdoppelung der Arbeitslosigkeit seit 2007 ist die abgrundtiefe Entfremdung des Volks von der politischen Klasse verständlich und gerechtfertigt. Nur jeder zweite Bürger ging zu den Wahlurnen, fast ein Viertel der Stimmen entfiel auf die 45 (!) Kleinparteien, die die Vierprozentmarke verpassten.

Die Berichte über illegale Abhörpraktiken des früheren Innenministers der Borissow-Regierung und die Beschlagnahme von 350.000 gefälschten Wahlzetteln, gefunden in einer mit der Regierungspartei verbundenen Druckerei, lassen keine Zweifel über die ungebrochene Macht des organisierten politischen Verbrechens aufkommen.

Weder die früheren sozialistischen Staats- und Regierungschefs noch Bojko Borissow und seine Minister haben ihre Versprechungen eingehalten, mit den Zuständen der von oben nach unten vernetzten Korruption gnadenlos aufzuräumen. Fast kein Politiker, der dieser Tage über die Bildung einer neue Koalitions- oder Minderheitenregierung (oder die Ausschreibung neuer Wahlen) verhandelt, hat laut unabhängigen Beobachtern eine wirklich weiße Weste. (DER STANDARD, 21.5.2013)