Wenn Erich Kasses um halb neun noch nicht da ist, werden die Kunden vor dem Geschäft von Staud's Marmeladen und Sauergemüse schon unruhig. "Ich stehe jeden Samstag ab acht Uhr hier", sagt Franz D., "ohne Kasses-Brot brauche ich gar nicht heimkommen zum Wochenendfrühstück." Die Frage, ob die liebe Familie denn überhaupt merken würde, wenn er die Unterlage für Butter, Schinken, Marmelade einmal bei der Großbäckerfiliale ums Eck besorgen würde, lässt den eben noch freundlichen Familienvater fast die Fassung verlieren: "Sie wissen offensichtlich nicht, wovon Sie da reden. Vielleicht probieren S' das Brot erst einmal, bevor Sie hier gute Ratschläge erteilen."
Hoppla. Die Freunde des Brots von Erich Kasses haben durchaus fanatische Züge. Und jene vom Wiener Yppenmarkt offenbar ganz besonders. Seit Kasses und der Marmeladenmacher Hans Staud sich vor knapp zwei Jahren darauf verständigten, dass der Yppenmarkt zumindest am Samstagmorgen mit wirklich gutem Brot versorgt gehört, versammelt sich der harte Kern der Brot-Groupies schon am frühen Morgen, um Kasses' Ankunft zu erwarten.
Dem die Kunden schleppen helfen
"Es ist ein bissl wie früher in dem Dorf, aus dem ich komme", sagt Franz D., "da haben wir auch immer gewartet, bis der Bäcker in der Früh mit seinem Lieferwagen aus dem Nachbardorf vorbeikommt, um seine Semmeln und Wachauer zu verkaufen." Als Kasses gegen zwanzig nach acht am Markt eintrudelt, die Ladetür des Wagens öffnet und beginnt, seine Steigen mit Roggenbrot, Baguette und Ciabatta, mit Vintschgerln, Nußbrot und Pan pugliese (aus Hartweizen!), mit Handsemmeln, Mohnflesserln und Briocheknöpfen herauszuholen, sind sofort helfende Hände parat, um die Ware in jenes Kammerl zu tragen, das Staud dem Bäcker zur Verfügung gestellt hat.
Im Frühjahr und Sommer wird ein Standl am Markt aufgestellt, im Winter dient der einstige Kolonia-Raum des Staud-Stands als improvisierte Verkaufsstelle. "Das berührt mich tief ", sagt Erich Kasses "diese persönliche Anteilnahme und Begeisterung, die Brot bei den Menschen hervorrufen kann." Die Begeisterung kommt nicht zufällig. Kasses ist an diesem Tag wie stets um drei Uhr früh in der Backstube in Thaya gestanden. Über 100 Sorten Brot bäckt er jede Nacht mit seinen vier Mitarbeitern und fünf Lehrlingen, ausschließlich aus naturbelassenen Zutaten, ohne E-Zusatzstoffe, mit minimalem Germeinsatz – dafür aber mit zwanzig verschiedenen, über Jahre selbst kultivierten Sauerteigen und mit ungefilterter Salzsole statt raffiniertem Salz.
Österreichs erster "Slow Baker"
Brot dieser Qualität braucht vor allem eines – Zeit. Es ist bezeichnend, dass Kasses als erster Österreicher in die Vereinigung der "Slow Baker" aufgenommen wurde, die sich im Zeitalter tiefgekühlter Teiglinge und künstlich parfümierter Backshops dem Schutz eines gefährdeten Handwerks verschrieben haben: Brotbacken nach überlieferten Techniken. Seitdem darf Kasses sich sozusagen offiziell als "langsamster Bäcker des Landes" bezeichnen – ein Titel, der ihm gefällt. "Weil sich die Langsamkeit auf die Teigführung bezieht, auf die Zeit, die man dem Teig gibt, sich aromatisch zu entwickeln."
Seine Kunden sind in der großen Mehrzahl in Wien zu Hause, wo das langsame Brot aus dem Waldviertel in den feinen Delikatessengeschäften gehandelt wird. Die Dörfer rund um Thaya aber, Gerharts zum Beispiel und Jarolden, Buchbach oder Gastern, werden wie seit je mit einem Lieferwagen versorgt. "Der klappert die Dörfer ab und verkauft am Hauptplatz direkt aus der Schiebetür", sagt Kasses, "das war schon immer so." Die "Extratour" ins 130 Kilometer entfernte Wien tut der Bäcker sich nur am Samstag an, wenn einer der beiden Fahrer frei hat. Kasses' Wochenende beginnt erst mit dem Mittagessen – um Punkt zwölf bei Frau Ingrid und den Töchtern Laura und Lena daheim in Thaya. Bis Montag, drei Uhr früh, bleibt die Backstube dann kalt. Bis auf die Sauerteige, die gemütlich vor sich hingären und pünktlich alle acht Stunden von Kasses persönlich mit Wasser und etwas Mehl gefüttert werden. Weil: "Wohlfühlen kann ich mich nur, wenn ich weiß, dass es den Teigen auch gutgeht." (Severin Corti, Feinkost, DER STANDARD, 23.05.2013)