Petronell - Kein Ort der Welt erscheint offenbar geeigneter, um bizarr gezackte Textscherben aus einer fetten, vor Fruchtbarkeit schier platzenden Erde zu schürfen - als just ein lieblicher, ein wenig abseits klebender Fleck in der theatralischen Autoatlaskarte.

Das idyllische Dorf Petronell-Carnuntum im Osten Wiens ist dank Impresario Piero Bordin für kurze Momente ein Zauberort antiker Theaterherrlichkeit. Wie immer Bordin es bei Art Carnuntum auch anstellen mag - ein Weltstar wie Gérard Depardieu trägt an diesem wenig bekannten Punkt der nachantiken Welt Augustinus' Confessiones vor und verzehrt anschließend Spanferkel beim ortsansässigen Heurigen.

Ein spröder Theaterautokrat wie Hansgünther Heyme kommt mit Mann und Maus und einem Koffer voller Verfremdungseffekte aus Recklinghausen geflogen - und führt fünf Euripideische Tragödienfragmente im unverputzten Stallungsgebäude von Schloss Petronell auf. Als ob Regisseur Heyme nicht etwa ein legitimer Nachfolger des großen Erwin Piscator wäre, sondern Striese - oder ein größenwahnsinniger Theatermacher im Nachhang von Thomas Bernhards bizarrem Bruscon ("Was, hier, in dieser muffigen Atmosphäre . . .?").
Der Muff aber kommt aus eher unvermuteter Ecke. Die neu übersetzten Chorliederfragmente und Handlungsscherben Euripides' klebt Heyme zu einer epischen Stilvase zusammen. Sieben Schauspieler aus dem Dickicht der Depressionsstädte scheinen in eine flüchtig gemauerte Wartehalle geraten, wo die Chöre zwar wunderfein a cappella zu singen verstehen - ansonsten aber die ideologischen Bedenken ihres uraufführenden Regisseurs als bürgerliche Sudelmasken im Gesicht spazieren tragen.

Die geile Pasiphae (Anabelle Lachatte), die sich von einem Stier bespringen lässt und zum verdrucksten Ärger ihres kretischen Gemahls Minos (Marco Lorenzini) mit einem taurischen Zwitterwesen - halb Stier, halb Mensch - niederkommt, gibt die verführerische Xanthippe am Nachtcaféhaustischchen. Man wähnt sich bei Ibsens im gutbürgerlichen Ehetragödiensalon aufgehoben: lauter Grimassen - stupend gute Schauspieler, die gerade so weit neben ihren Rollen stehen, dass man Euripides als den Strindberg der attischen Demokratie (miss)versteht. Doch möchte man die guten Handwerker nicht schmähen: Man erfährt Wissenswertes über unschuldige Kindsmörderinnen wie die gute Hypsipyle, über Phaetons rasende Fahrt im väterlichen Sonnenwagen - und feiert das Wiedersehen mit der Schaubühnen-Duse Elke Petri, deren nervöser Singsang als Praxithea, Gemahlin des Tochtermörders Erechtheus, köstliche Träume wachruft: solche der ein wenig länglichen Muße auch, wenn man kein ausgemachter Altphilologe ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.7.2003)