Angetrieben von der Dynamik einer kommenden Revolution: Jugend der 70er in "Après Mai".

Foto: Polyfilm

Regisseur Olivier Assayas (58).

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STANDARD: "Après Mai" ist autobiografisch, blickt aber auf die politisierte Jugend der 1970er-Jahre in Form eines Gruppenbildes. Wie kam es dazu?

Assayas:  Ich hatte zunächst eine Sammlung vieler kleiner Anekdoten und Erinnerungen. Das war mein Ausgangspunkt, meine Verbindung zur Historie: keine Nachforschungen, sondern Erinnerungen. Die konnte ich quasi einschlagen wie Pflöcke, in der Gewissheit, dass diese Gespräche, Situationen akkurat sind. Während ich meine eigene Geschichte rekonstruierte, die nun die Geschichte von Gilles im Film ist, habe ich bemerkt, dass ich ihn nicht herauslösen kann. So habe ich einen Film gemacht, der von einer Generation erzählt.

STANDARD:  Ein zentraler Konflikt, nicht nur für Gilles, ist jener zwischen politischen und künstlerischen Ambitionen. Wieso war gerade das so wichtig?

Assayas:  Dieses Spannungsverhältnis bildete exakt den Kontext meiner Jugend. Im Rückblick wird daraus immer ein Durcheinander. Es wird so getan, als wären Popkultur und Politik damals irgendwie eins gewesen. Tatsächlich waren das zwei getrennte Stränge von Radikalität: die Politik, die in Frankreich vom Mai 1968 geprägt war, in dessen Gefolge sich die Ultralinke organisierte und an den Unis, bei der Jugend Einfluss gewann. Und die Gegenkultur, die in den späten 60ern mit dem Summer of Love in den USA begonnen hatte. Beide wollten die Welt verändern, aber auf völlig unterschiedliche Art. In Frankreich hat die Linke Popmusik, alles, was mit Gegenkultur zu tun hatte, verabscheut. Das galt alles als Trick der Gegenseite, um die Jugend vom politischen Kurs abzubringen.

STANDARD:  "Après Mai" entwirft vor diesem Hintergrund eine Reihe möglicher Leben, geprägt von einer Dringlichkeit, die heute schon historisch wirkt.

Assayas:  In den 1970ern sah man den Mai 68 als eine fehlgeschlagene Revolution, die aber Türen geöffnet hatte für die kommende, erfolgreiche. Das Vorhandensein eines revolutionären Potenzials war erwiesen, erfüllen würde es sich in naher Zukunft. Man war von dieser Dynamik angetrieben. Der Mai 68 validierte die Utopie.

STANDARD:  Wann hat sich das verändert?

Assayas:  Für mich mit Punk zirka 1976. Aber schon 1974/75 hatte man das Gefühl, dass alles auseinanderbrechen würde. Es war katastrophal - mit dem Terrorismus in Italien, Deutschland, Japan. Diese wirklich hässliche, dunkle Seite der Politik der 70er wurde dominant, und jeder konnte das Gewicht dieser bleiernen Jahre spüren. Punkrock gab der Rebellion und der Wut eine neue Bedeutung.

STANDARD: War Punk groß in Frankreich?

Assayas:  Ich benutze Punk ein bisschen als Codewort. Aber ja - es gab eine Szene, einen Prä-Punk-Spirit in Paris um 1975/76. Nicht allein auf Musik bezogen, es ging auch darum, nicht mehr auf die Revolution zu warten, sondern einfach nach etwas zu greifen - schnell, wenn es eben ging. Plötzlich gab es viel neue Energie, man wurde wieder kreativ. Leider entwickelte sich das auch schnell zum Schlechtesten: Die Leute begannen, sich fürs Geldmachen zu interessieren - das wurde dann die Geschichte der 1980er.

STANDARD:  Inwiefern konnte Ihr junges Ensemble eine Beziehung zu dieser anderen Jugend herstellen - und Sie selbst umgekehrt?

Assayas:  Wenn man Filme macht, muss man sich immer wieder neu mit der Jugend verbinden - "movies are about youth". Zumindest für mich trifft das zu. Auch bei Après Mai ging es darum - mit einer neuen Generation zu arbeiten, mit Laien. Sie zu finden und auszuwählen hat gedauert. Aber nachdem die Gruppe feststand, habe ich gemacht, was ich immer tue - nämlich sie den Laden schmeißen zu lassen. Ich bin nur Zeuge, neugierig, ob sie mit meinen Szenen und Dialogen etwas anfangen können, ob die Verbindung klappt.

STANDARD:  Gab es auch Dinge, die Ihrem Ensemble fremd blieben?

Assayas:  Die oberflächlichsten Dinge waren natürlich am einfachsten - in der Kleidung haben sie sich wohlgefühlt, mit den Frisuren auch bis zu einem gewissen Grad - in den 70ern gab es halt noch kein Gel. Die Musik ist Teil ihrer Fantasien, die Politik generell nicht so sehr. Die Politik der 70er-Jahre in ihrer Komplexität, worum es da ging, auch im Unterschied zu ähnlichen politischen Bewegungen heute, haben sie nicht verstanden. Das hat wohl auch damit zu tun, dass heute eine wesentliche Dimension fehlt, und das ist die historische Perspektive.

STANDARD:  Wie meinen Sie das?

Assayas: Ich will nicht moralisieren, aber in den 70ern haben wir uns als Teil der Geschichte gesehen. Man hat geradezu obsessiv nach Wurzeln in der Vergangenheit gesucht. Heute herrscht gegenüber der Geschichte große Ignoranz, geradezu Ablehnung. Die Vergangenheit ist böse, da wurden Minderheiten unterdrückt, das war die Zeit der politischen Unkorrektheit. Wir leben also plötzlich in einer dauernden Gegenwart, ohne genuine Beziehung zu unserer eigenen Kultur. Aber man kann auch keine radikale Gegenposition entwickeln, wenn man gar nicht weiß, worauf man sich beziehen soll oder wie sich das entwickelt hat, wogegen man sich wenden will.     (Isabella Reicher, DER STANDARD, 31.5.2013)