
"Ginster".
In diesem Antikriegsroman schälen die Rekruten gegen den Feind Kartoffeln. Und lassen sich von einem Regiment Hopfenstangen in die Flucht schlagen. Mit seinem scheinbar naiven Blick demaskiert der Titelheld, ein junger, zum Ersten Weltkrieg eingezogener Frankfurter Architekt namens Ginster, seine Umwelt, die zu Dingen entmächtigten Menschen - während die sprachliche Komik seines Autors Siegfried Kracauer das Gerede der Epoche unbarmherzig beim Wort nimmt.
Der Suhrkamp-Verlag hat Siegfried Kracauers großen Roman Ginster nun in einer Einzelausgabe dankenswerterweise wieder auf den Markt gebracht. Die Erstausgabe erschien 1928 zunächst anonym, auf dem Höhepunkt einer Welle von Antikriegsromanen. Doch kehrte Kracauer, 1889 in Frankfurt am Main geboren und 1966 in New York gestorben, mit seinem Roman das Genre gegen den Strich. Wobei die Handlung auffällige Ähnlichkeiten mit Kracauers Biografie in den Jahren 1914 bis 1918 aufweist: Erst wird der junge Ginster, aus dessen Abstammung von den Figuren Chaplins der Autor keinen Hehl machte, immer wieder zurückgestellt, dann gelangt er nur einmal auf einen Schießplatz im "militärischen Hinterland".
Ereignislose Alltagswelt
Von wo er alsbald wieder zurück an seine "private Front versetzt" wird: die vom Krieg zur Kenntlichkeit entstellte, ereignislose Alltagswelt. Deren verbliebene Insassen befördern sich gerade selbst eilig zu Kriegerwitwen und Kaffeehausgenerälen. Eine bizarre Gesellschaft, mit der der um seine Individualität kämpfende Ginster bereits als Kind auf Kriegsfuß steht. Nun, als junger Mann, wäre er eigentlich zu allem bereit - könnte ihm nur jemand den Sinn erklären.
Die Metaphorik wird von Kracauer, dessen Feuilletons für die Frankfurter Zeitung Journalismusgeschichte schrieben, stets ein Stück weiter getrieben, als der Leser es erwartet, hinein ins Absurd-Groteske. Wie bei Ginsters Spaziergang mit einem mobil gemachten Freund: "Bei jeder zweiten Uniform ging der Arm in die Höhe. Er wurde nicht von Otto geschwungen, sondern flog selbsttätig auf. Otto hätte die Uniformen gar nicht erkannt. Der Arm mußte ihm eingesetzt worden sein, mit Rädchen im Körper. Das System wurde von den Uniformen aus der Ferne bewegt. Er konnte nicht ausgeschaltet werden und funktionierte ohne Otto vermutlich viel besser. Die Drehung des Körpers wäre auch in seiner Abwesenheit zustande gekommen. (...) Blieben die Uniformen aus, so kehrte der Apparat in die Ruhelage zurück, nicht ohne hie und da aufzuzucken, wenn von weitem ein Rock sich zeigte, der als Uniform hätte ausgedeutet werden können. (...) Um den Arm still zu legen, lenkte Ginster zum Hafen."
Dem verzweifelten Ginster, der nichts will, sondern "am liebsten zerrieselte", oder der davon träumt, wie die gleichnamige Pflanze an Bahndämmen zu blühen, bleibt in der ihm fremd bleibenden Wirklichkeit nur soziale Mimikry. Und die Suche nach der rettenden "Lücke" in den undurchdringlich scheinenden gesellschaftlichen Ordnungen. Allein seine gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit ermöglicht ihm die Flucht ins Formlose, ein Sichverlieren beim Anblick sinnfreier Muster und Ornamente. Einmal, beim Anblick eines davonfahrenden Dampfers, fühlt er sich "für einen Augenblick wenigstens aus jedem Zusammenhang gerissen".
Als "abgesplitterte Partikelchen im verrinnenden Zeitstrom" beschrieb der Kulturphilosoph Kracauer (1889-1966) in seinem berühmten Essay Die Wartenden seine Generation. Und empfahl ihnen ein "zögerndes Geöffnetsein", ein sich Bereithalten für den utopischen Moment, auf den Kracauer setzte. Für dieses sehnsuchtsvolle Warten auf einen utopischen Zustand jenseits von sozialen Zwängen und Zumutungen, von Körpergrenzen und tradierten Geschlechterrollen ist seine Figur Ginster die denkbar schönste Verkörperung. (Oliver Pfohlmann, Album, DER STANDARD, 1./2.6.2013)