Die Bloggerin Tsering Woeser prangert an, Peking zerstöre gezielt die tibetische Identität von Lhasa.

Foto: Standard/Erling

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Potala Palast in Lhasa.

Foto: EPA

Für die tibetische Bloggerin Tsering Woeser war die im Internet verbreitete Ankündigung zum Baubeginn eines überdimensionierten Einkaufsparadieses mitten im historischen Stadtkern von Lhasa ein Schock. Das weltbekannte Viertel des Barkhor-Gebetswegs um das Kloster Jokhang, so las sie, werde zum internationalen Tourismuszentrum gemacht. Ein Drittel der Gesamtfläche von 154.000 Quadratmetern sei für Tiefgaragen geplant.

Noch am Abend schrieb die Tibeterin voller Zorn einen Blogbeitrag: " Rettet Lhasa!" Den Geschäftemachern sei nichts mehr heilig, sagte die in Peking lebende Schriftstellerin. Ihre Leser sahen es zu Zehntausenden genauso. Pekings alarmierte Zensoren löschten zwar rasch alle Einträge, " da war mein Blog aber schon mehr als tausendfach verbreitet!"

Die 47-Jährige wurde als mutige Chronistin der Protest- Selbstverbrennungen ihrer tibetischen Landsleute bekannt. Diese Tragödien dürften aber den Blick von anderen Problemen in Tibet nicht ablenken, mahnt Woeser. Sie prangert die aus Geschäft und Kalkül vor sich gehende Zerstörung der Altstadt von Lhasa an.

Erschreckender Reiseboom

Als sie vor Monaten selbst in Lhasa war, erschrak sie vor den Auswirkungen des Reisebooms. Der Potala-Palast, ein Unesco- Weltkulturerbe, werde vom Tourismus überrannt. Die Rede ist von einer Million Besucher pro Jahr. Einst waren die Einlasszahlen auf weniger als 1000 Besucher pro Tag beschränkt, doch nun bringen die Tibet-Eisenbahn und Reisebusse auf Fernstraßen massenweise Reisende nach Lhasa.

Denkmalschutzbestimmungen werden überall aufgeweicht. Woeser nennt etwa das 1838 gebaute Elternhaus des Elften Dalai Lama. 2009 wurde es zum " Kulturerbe-Hotel". Die teuersten Zimmer seien einstige Räume für Sutra- Schriften oder Buddha-Statuten.

Die Arbeit, die einst der Deutsche André Alexander und die Portugiesin Pimpin de Azevedo in Kooperation mit der Stadt Lhasa leisteten, wird überall zunichtegemacht. 1996 gründeten sie ein Stiftungsprojekt zur Altstadtsanierung "Tibet Heritagefonds" (THF). Es gelang ihnen, historische Bausubstanz zu retten. Vier Jahre lang sanierten THF- Architekten mit Fachhandwerkern Dutzende alter Häuser. Doch Tibets Behörden beendeten 2000 abrupt das Projekt und wiesen die Stiftung aus. Alexander, der im Jänner mit nur 47 Jahren starb, habe ihr vor seinem Tod den Grund für seinen Rauswurf genannt, sagt Woeser: Er hatte der Unesco verraten, wie ein hoher Funktionär ein uraltes Haus abreißen ließ, bloß um einen Laden zu bauen.

Das Drama der Zerstörung des Stadtkerns beschleunigt sich auch aus politischen Gründen. Die Behörden nutzten die Selbstverbrennungen von zwei Tibetern am 27. Mai 2012 als Vorwand, um den Stadtkern in ein touristisches Folklore-Viertel umzuwandeln. Woeser fürchtet, dass alteingesessene Familien umgesiedelt werden, um Platz für Restaurants, Bars, Luxusshops oder Reisebüros zu machen.

All das gehe Lhasa nicht nur "unter die Haut, sondern auch an die Knochen", sagt Woeser. Beispiel ist das 2012 eröffnete Einkaufszentrum Shenli Shidai mit seinen teuren Tiefgaragen. Die Untergeschoße hätten zwei Jahre lang entwässert werden müssen.

Mit der kommenden Barkhor-Plaza werde sich das Problem verschlimmern: Woesers Blog endet: "Ich rufe die Unesco und alle internationalen Organisationen, alle Tibetologen, Forscher und an Tibet Interessierten auf, diese furchterregende 'Modernisierung' des alten Lhasa zu stoppen!" (Johnny Erling, DER STANDARD, 1.6.2013)