Ein Drittel der Moldauer lebt am Rande des Hungers.

Foto: Neoumanist Association

Das weltweit wohl dringendste Problem ist die Schere zwischen Arm und Reich. Dass sie sich immer weiter öffnet und dass es keinen wirksamen Plan gibt, diese Entwicklung zu stoppen und den erwirtschafteten Reichtum gerecht(er) zu verteilen, ist auch ein zutiefst menschenrechtliches Thema: Nicht zufällig sind der Schutz vor Armut und Hunger sowie das Recht auf einen akzeptablen Lebensstandard unveräußerlicher Teil der UN-Menschenrechtsdeklaration aus dem Jahr 1948 und folgender vergleichbarer Erklärungen, etwa der Europäischen Menschenrechtsdeklaration.

Denn wer im Elend lebt, kann auch seine politischen und bürgerlichen Rechte nur beschränkt ausüben. Weil ihm oder ihr im Kampf, den heutigen Tag, die Woche, den Monat zu überleben, schlicht die Kraft dazu fehlt.

Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie ein solches Überleben aussieht und was es mit den Menschen macht, die ihm unterworfen sind, muss man Europa nicht verlassen. Man muss, zum Beispiel, nur eineinhalb Flugstunden weit in die Republik Moldau fliegen* und sich dort weder von der im Frühsommer üppig grünen Landschaft noch von den auch existierenden Inseln des Wohlstands, ja Reichtums ablenken lassen.

Ein Drittel schwer verarmt

Sondern man muss sich die Zustände vergegenwärtigen, unter denen dort, meist am Land, ein - von HelferInnen geschätztes - Drittel der Menschen lebt (eine ausführlichere Reportage im STANDARD folgt).

Dieses Drittel lebt am Rande des Hungers - und oft auch jenseits dieser Grenze, denn die im Handel befindlichen Lebensmittel sind mit den realen Monatseinkommen (eine moldauische Pensionistin etwa bezieht umgerechnet 60 Euro Monatspension) für viele unerschwinglich. Auch Schulkindern wird von Schulärztinnen vielfach Unterernährung beschieden. Also sind die meisten MoldauerInnen auf Subsistenzwirtschaft angewiesen: kein Garten, in dem nicht jeder Quadratmeter für den Anbau von Erdäpfeln, Zwiebeln, Gurken und Paradeisern ausgenützt würde.

"Moldawische Diebsbanden"

Doch was geschieht, wenn besagter Pensionistin die Knochenarbeit im Garten zu viel wird? Dann hat sie schlicht nichts mehr zu essen, und es drohen ihr Hunger, Auszehrung und Tod. Helfende Nachbarn und Verwandte fehlen oft: Viele Junge sind auf der Suche nach ausreichend Einkommen im Ausland, viele davon mangels legaler Einreisechancen schwarz. Straucheln sie dort, ist in den österreichischen Boulevardmedien dann von "moldawischen Diebsbanden" die Rede.

Aus welchen Lebensumständen diese Diebe kommen, interessiert in diesem Fall keine und keinen mehr. Etwa dass besagtes verarmtes Bevölkerungsdrittel unter widrigen infrastrukturellen Bedingungen lebt: Weder in Jahrzehnten der Sowjetherrschaft noch seit der Wende 1992 ist es gelungen, in den Dörfern für Fließwasser und Kanalisation zu sorgen. Das Klo ist meist nur ein Loch im Garten, das Wasser stammt aus privaten Brunnen und muss auf Öfen mühsam erwärmt werden.

Angst vor dem Winter

Doch was geschieht, wenn es im Winter wochenlang minus 20 Grad und weniger hat? Dann fürchten Angehörige der zahlreichen vor Ort tätigen Hilfsorganisationen täglich, in den baufälligen Katen  Erfrorene vorzufinden.

Besagte Hilfsorganisationen können das moldauische Elend nur lindern, können es nicht beseitigen. Es handelt sich um lebensbedrohliches Elend in einem Staat, dem von den Vereinten Nationen insgesamt ein "mittleres" Niveau der Wohlstandsentwicklung beschieden wird: Im weltweiten Wohlstandsindikator, dem Human Development Index, rangiert die Republik Moldau unter 186 Staaten derzeit auf Platz 113.

Um den Menschen in diesem in Europa ärmsten Staat effizient zu helfen, bräuchte es - nach einer politischen Lösung des Problems mit der abtrünnigen, von Russland unterstützten Republik Transnistrien - ausgedehnte Investitionen: klug eingesetztes Geld, das der Bevölkerungsmehrheit zugutekommt, abseits der Korruptionsfalle, in der sich nur wenige bereichern.

Doch wie gesagt: Gegen die sich weiter auftuende Schere zwischen Arm und Reich gibt es derzeit keinen Plan. Dabei hinge von einem solchen Plan die Zukunft ab. (Irene Brickner, derStandard.at, 2.6.2013)