Bild nicht mehr verfügbar.

Zusammen­stöße zwischen Sicherheitskräften und Jugend­lichen in der Nacht auf Sonntag nahe Dolmabahce in Istanbul, einem Amtssitz von Premier Erdogan. Die Demons­tranten streben den Sturz des umstrittenen Regierungschefs an.

Foto: AP

Bild nicht mehr verfügbar.

Auf dem Taksim-Platz im Herzen Istanbuls wurde auch am Sonntag weiter demonstriert. Auf der Flagge dieses Regierungsgegners prangt das Bild von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk.

Foto: AP/Stavrakis

Jugendliche lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die Proteste sind die bisher größte Herausforderung für Premier Erdogan.

Nichts hier würde dem Regierungschef gefallen. Nicht die jungen Leute, die nachts auf der Straße stehen oder auf den Bürgersteigen sitzen, ganz ohne Genehmigung der Behörden. Und nicht dieser Laden gleich gegenüber der Firuz-Agha-Moschee, wo pausenlos Bierflaschen aus dem Kühlschrank über den Tresen gehen, während der Muezzin zum letzten Gebet an diesem Tag aufruft.

Das ist Çihangir, das teure Künstler- und Bohème-Viertel in Istanbul, der liberale Pfuhl der Millionenstadt am Bosporus, den die konservativ-muslimische Regierung ohnehin nie leiden konnte. Doch jetzt feiert Çihangir seinen Sieg. Tränengas hängt in der Luft, das Kilometer entfernt seit Stunden verschossen wird. Aber hier hat die Polizei den Rückzug angetreten. Eine Gruppe junger Türken bahnt sich den Weg durch die Menge, reißt die Arme hoch und brüllt "Tayyip Rücktritt!".

Es ist die größte Herausforderung für den seit nun zehn Jahren regierenden Premier und seine ihm ergebene Partei. Selbstsicher wie immer absolviert Tayyip Erdogan am Wochenende Routineauftritte in Istanbul, spricht bei Festakten und Konferenzen, aber sein Gesicht verrät die Irritation über die Massenproteste, die bereits auf andere Städte in der Türkei übergegriffen haben. "Provokateure"  nennt Erdogan die Zehntausenden von Demonstranten. Von einem "Komplott"  spricht er. Bis in die frühen Morgenstunden des Sonntags liefern sich Jugendliche Straßenschlachten vor den Amtssitzen des Premiers in Istanbul und in Ankara. Es ist ein Symbol. Sie wollen seinen Sturz.

Kitsch und Prestige

Angefangen hat alles mit dem Gezi-Park oberhalb von Çihangir, auf dem Taksim-Platz, dem größten Platz der Republik und der wichtigsten Bühne für die politischen Demonstrationen des Landes. Den Park will die Regierung abholzen und an seiner Stelle wieder ein Garnisonsgebäude aufbauen, das hier einmal stand. Es ist ein Kitsch- und Prestigeobjekt und Teil des noch viel größeren Umbaus des Taksim-Platzes, gegen den Architekten und Umweltschützer seit mehr als einem Jahr Sturm laufen.

"Mir geht es immer noch um den Park und die Bäume", sagt Zeynep, eine Studentin, die bei der friedlichen Besetzung des Gezi-Parks mitmachte. Sie zeigt den Platz auf dem Rasen, wo ihr Zelt stand. Um fünf Uhr morgens am vergangenen Donnerstag kam dann die Polizei, erzählt sie. Als einer der Protestierenden einen Stein warf, brach alles los.

Zwei Tage dauert die Schlacht auf dem Taksim-Platz: Die Polizisten feuern mit Tränengas und beißenden Wasserlösungen aus langen Spritzpistolen, auch auf einen halben Meter Distanz. Unter der Wucht des Strahls gehen die Menschen auf die Knie oder werden über den Asphalt gespült. Gasgranaten treffen Demonstranten am Kopf. Die Bilder gehen um die Welt – von der jungen Frau, einer Palästinenserin, die betäubt und mit leerem Blick auf dem Rasen liegt; vom blutüberströmten Aufdecker-Journalisten Ahmet Sik, den Erdogan zum "Bombenleger" abgestempelt hat und dem die Justiz wegen eines Buchmanuskripts den Prozess macht.

Präsident will beruhigen

So groß ist die Brutalität der Einsatzkräfte, dass Innenminister Muammer Güler eine Untersuchung ankündigt. Abdullah Gül, der Präsident und politische Weggefährte des Premiers seit Anbeginn, versucht zu beruhigen. Die Protestierenden ruft er zu Besonnenheit auf; die Regierung aber solle den "Sorgen" der Menschen zuhören. Freitagnachmittag räumt die Polizei mit einem Mal den Gezi-Park und später den Taksim. Ein Gericht suspendiert in einer Eilentscheidung plötzlich die Abholzung des Parks.

Denn die Gewalt gegen die Aktivisten löst eine enorme Welle der Solidarisierung aus. Zehntausende kommen aus allen Stadtteilen zum Taksim-Platz ins Zentrum von Istanbul, füllen die Einkaufsmeile der Istiklal-Straße, marschieren noch am frühen Samstagmorgen über die Bosporusbrücke auf die europäische Seite. Ein neues Kapitel beginnt.

"Das hier ist ein Volksaufstand" , sagt Erhan Altan, ein Schriftsteller aus Wien, der gerade zu Besuch nach Istanbul kam. "Wir haben ihn Jahre lang ausgehalten" , sagt er über den frommen Premier mit dem autoritären Stil, "jetzt reicht es allen."

Wo wird der Protest enden? Wird er auslaufen oder Istanbuls Bürgermeister oder gar den Premier selbst zu Fall bringen? "Ich weiß es nicht", sagt Özge, eine andere Studentin, die mit ihren Freunden auf einer Bordsteinkante sitzt. Alle tippen sie Kommentare ins Internet, weil die TV-Sender die Proteste kleinreden. Die junge Türkin will weitermachen: "Wir können nicht zu Hause sitzen bleiben."  (Markus Bernath aus Istanbul /DER STANDARD, 3.6.2013)