Erdogan hat es mit seinen Vorschriften für die Türken zu weit getrieben, stellt die sozialdemokratische Parlamentsabgeordnete Binnaz Toprak im Gespräch mit Markus Bernath fest.
Standard: Der türkische Regierungschef hat die Demonstrationen eine "Provokation" genannt. Wie finden Sie das?
Toprak: Er liegt damit völlig falsch, er sagt nicht die Wahrheit. Und ich sage das nicht als Mitglied der Opposition, sondern als Bürger, der besorgt ist, über die Demokratie in der Türkei. Der Premierminister behauptet, die Leute, die demonstrieren, seien Randfiguren, Kommunisten und ähnlich Gesonnene, die nur Krawall machen wollen. Das ist weit entfernt von der Realität. Es ist nicht das erste Mal, dass es in der Türkei einen Aufstand gibt. Ich erinnere mich an die 1970er-Jahre, als es jeden Tag Schießereien gab zwischen Linken und Rechten. Aber so etwas wie die Proteste heute habe ich in der Türkei noch nie gesehen: Eine Generation, die immer als unpolitisch angesehen wurde, ist aufgestanden.
Standard: Sie sind Soziologin. Wie würden Sie diesen Aufstand beschreiben?
Toprak: Es ist eine Revolution der Jungen, der Mittelklasse, die ein normales Leben führt, aber den autoritären Stil der Regierung nicht mehr akzeptiert. Der Protest begann nach einer Serie politischer Entscheidungen des Premiers und seiner Regierung: der Verkaufsbann von Alkohol, die Geschichte mit dem Weißbrot – es ist doch unglaublich, dass ein Regierungschef den Leuten vorschreibt, was sie tun sollen! Das hat es in der Türkei noch nie gegeben: Ihr sollt mindestens drei Kinder haben, kein Weißbrot essen (wegen des Risikos des Übergewichts, Anm.), nicht zu viel Salz, keinen Alkohol trinken. Er lässt eine Statue abreißen, die ihm nicht gefällt (das Mahnmal für die Menschlichkeit von Mehmet Aksoy in Kars, Anm.), den Taksim-Platz umbauen und so weiter. Die Leute mögen aber den Park dort. Das alles war eine Anhäufung von Entscheidungen, die zu diesem Protest geführt hat.
Standard: Man sieht viele Studenten bei den Protesten auf dem Taksim-Platz – aber nicht nur.
Toprak: Das stimmt. Die Linken haben sich angeschlossen, die Kapitalismuskritiker, aber auch die Fan-Organisation der Fußballklubs zum Beispiel – Fenerbahce, Besiktas, Galatasaray. Und selbst Geschäftsleute haben sich solidarisiert. Ümit Boyner, die ehemalige Präsidentin des Unternehmerverbands Tüsiad, hat angekündigt, dass sie keine Filialen in dieser neuen Shopping-Mall eröffnen wird, die in das wiederaufgebaute Garnisonsgebäude kommen soll. Leute in Çihangir wie in Üsküdar (ein konservativer Stadtteil in Istanbul, Anm.) sind auf die Balkone gegangen und haben auf Kochtöpfe und Pfannen geschlagen. Und dann stellt sich Erdogan vor das Mikrofon und erklärt, das alles seien Randfiguren! (DER STANDARD, 3.6.2013)