Verräterisch ist schon der allgemeine Sprachgebrauch. Jemand, der längere Zeit traurig ist, wird schnell als depressiv bezeichnet. Ein lebhaftes Kind hat vermutlich eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS), und wenn jemand über dem 40. Lebensjahr vergesslich ist, steht die Angst vor einer beginnenden Demenz schon parat.
Psychiatrische Diagnosen haben Einzug in den Alltag gehalten und ersetzen das, was ehemals als normales Spektrum von Gefühl, Alter und Charakter galt. Das zumindest behauptet Allen Frances, laut New York Times einer der einflussreichsten Psychiater Amerikas.
Wortreich prangert er die aus seiner Sicht gefährliche Entwicklung in der aktuellen Psychiatrie an. Aus schwierigen Lebenssituationen werden Krankheitsbilder konstruiert. Psychopharmaka werden viel zu schnell, unbedacht und vor allem oft unsachgemäß verordnet, warnt er.
Modediagnosen
Dass er selbst eine wichtige Rolle in der Psychiatrisierung der Gesellschaft gespielt hat und dies an vielen Stellen offen und selbstkritisch zugibt, macht sein Buch besonders glaubhaft. Indem er Psychiatriegeschichte Revue passieren lässt, erzählt er von der Uneinheitlichkeit psychiatrischer Diagnostik vor 50 Jahren und erklärt, warum die Katalogisierung im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DSM) - der Bibel der Psychiatrie - wichtig war. Doch längst wird das DSM von Pharmafirmen missbraucht, behauptet Frances. Jetzt, wo in den USA die Veröffentlichung des DSM-V unmittelbar bevorsteht, warnt er Patienten vor Kollegen, die zu sehr an die Macht von Medikamenten glauben und sämtliche Gefühle "normiert" sehen wollen. Der US-Psychiater verurteilt die Machenschaften der Pharmalobby und unterstellt ihnen, Modediagnosen zu produzieren, um den Markt für entsprechende Medikamente anzukurbeln.
Zwar schreibt Allen Frances aus einer US-Perspektive, könnte man einwenden, doch auch in Europa steigt die Zahl psychisch Kranker sprunghaft an. Wie dehnbar und gleichzeitig lebensrettend psychiatrische Diagnostik und Therapie sein kann, wird im letzten Kapitel eindrücklich demonstriert. Frances will Diskussionen anregen, mit diesem Buch ist ihm das sicher gelungen. (Karin Pollack, DER STANDARD, 3.6.2013)