Robert Jungk, Zukunftsforscher und Galionsfigur der internationalen Umwelt- und Friedensbewegung, dessen hundertsten Geburtstags kürzlich gedacht wurde, schrieb vor dreißig Jahren den auch später durch den Zusammenbruch der kommunistischen und mittelöstlichen Diktaturen bestätigten Satz: "Die sich so stark geben, sind in Wahrheit schwächer, als sie auftreten, und diejenigen, die meinen, sie seien zur Ohnmacht verurteilt, sind stärker, als sie vermuten."

Diese Worte fallen dem Beobachter ein, wenn er die Berichte über die fluchtartige Ausreise des angesehenen russischen Ökonomen Sergej Guriew aus Moskau nach Paris liest. Dieser 41-jährige Rektor der Moskauer Wirtschaftshochschule, Berater der Medwedew-Regierung und Aufsichtsrat bedeutender russischer Unternehmen, sagte Journalisten, er wolle auf keinen Fall zurückkehren, solange er in Russland um seine Freiheit fürchten müsse. Er soll wegen seiner Kritik an der Rechtmäßigkeit des 2010 durchgeführten zweiten Prozesses gegen den seit 2003 inhaftierten früheren Yukos-Chef Michail Chodorkowski, so wie übrigens andere Gutachter des Menschenrechtsrats beim damaligen Präsidenten Medwedew, von der Geheimpolizei (des sogenannten Ermittlungskomitees) unter Druck gesetzt worden sein. Der Ökonom machte kein Hehl aus seiner Sympathie für die Opposition, so auch für den Kampf des Bloggers Aleksej Nawalny gegen die Korruption.

Wenn man aber bedenkt, dass der sprachgewandte Guriew zur Beurteilung des zweiten Urteils gegen Chodorkowski von dem derzeitigen Regierungschef, dessen gelegentlicher Redeschreiber er gewesen sein soll, damals gebeten wurde, liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Putins klare Option für den Kurs der politischen Repression richtet sich also auch gegen den als Galionsfigur der Modernisierung inzwischen völlig diskreditierten Dmitri Medwedew.

Auch der frühere stellvertretende Regierungschef (unter Jelzin) und liberale Oppositionelle Boris Nemzow, der kürzlich öffentlich die Mannschaft Putins massiver Korruption bei dem Winterolympiaprojekt in Sotschi beschuldigt hat, läuft Gefahr, so wie alle Gegner des Putin- Regimes, früher oder später zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden.

Was kann der Westen in dieser Situation tun? Der Vorsitzende des Vorstands des Deutsch-Russischen Forums (deutscher Botschafter 1995-2002 in Moskau), Ernst-Jörg von Studnitz, warnt ("FAZ", 30. Mai) vor einer "nutzlosen Konfrontation" wegen der "Demokratie- und Rechtsstaatsdefizite". Die Proteste der Menschenrechtler könnten angesichts von Putins Stärke die "Situation sogar noch verschlimmern". Mit Hinweisen auf "Durchbrüche" in der DDR unter Honecker und in der Breschnew-Zeit plädiert er für rüstungs- und außenpolitische Konzessionen des Westens, um eine Verbesserung in Fragen der Menschenrechte zu erzielen.

Im Gegensatz zum zitierten geschäftsfreundlichen Diplomaten sind für den deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck Menschenrechte "nicht verhandelbar", auch nicht zum Schutze wirtschaftlicher Kooperationen. Auch der Londoner "Economist" warnt den Westen vor einer Verniedlichung der Folgen der russischen Repressionspolitik. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 4.6.2013)