Oliver Rathkolb (Hg.): "Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert". V&R Unipress, Göttingen 2013.

Coverfoto: Vienna University Press

"Populismus pur auf allen Ebenen": Man kann Oliver Rathkolbs Einschätzung zustimmen, wenn man seine Darstellung der sich zuspitzenden nationalen und konfessionellen Konflikte an den österreichischen Unis verfolgt. Sie beginnt nicht zufällig in den 1870er-Jahren, nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden in der Monarchie, und sie reicht bis zum Ersten Weltkrieg.

Die rhetorischen und rechtlichen Winkelzüge von Rektoren und von Berühmtheiten wie Theodor Billroth, die Scharmützel deutschnationaler Studentenschaften, die Reaktionen der zahlenmäßig wachsenden "nicht- deutschen" Kommilitonen - das alles schuf eine Atmosphäre, die in der Zwischenkriegszeit noch weiter eskalieren sollte, mit den bekannten verheerenden Folgen.

Um diese Entwicklung geht es in dem Sammelband "Der lange Schatten des Antisemitismus", den der Wiener Zeitgeschichtler Rathkolb herausgab. Das Buch ist Ergebnis einer Tagung vom vergangenen Oktober. Es war die überfällige Aufarbeitung eines so unrühmlichen wie lange Zeit verdrängten akademischen Kapitels.

Zwölf Beiträge und die damalige Eröffnungsrede von Rektor Heinz W. Engl widmen sich aus (fach)wissenschaftlichen und (sozial)geschichtlichen Perspektiven dem Thema. Unter ihnen ist etwa Götz Aly zu nennen, der den Neid auf die aus dem Osten zugezogenen, ehrgeizigen und bildungshungrigen Konkurrenten als Motiv in den Vordergrund stellt.

Die Attacken auf den Anatomen, Juden, sozialistischen Politiker (und auch noch Freimaurer!) Julius Tandler (von Birgit Nemec und STANDARD-Redakteur Klaus Taschwer) und auf den Uni-Archivar Arthur Goldmann (Thomas Maisel) und die tödlich endende Hetze gegen Moritz Schlick (Friedrich Stadler) werden genau analysiert. Mitchell Ash relativiert die gängigen Narrative vom zielgerichteten Weg in den Abgrund und vom resultierenden Abrutschen Österreichs in die wissenschaftliche Provinzialität zugunsten eines unemotionalen Blicks auf die Geschichte.

In einem weiten Bogen beleuchtet Eric Kandel Formen erfolgreicher Zusammenarbeit zwischen Juden und Christen von der Jahrhundertwende fast bis heute, insbesondere in seinem Fachgebiet, der Hirnforschung.

Einen vorsichtig optimistischen Befund, ebenfalls aus New Yorker Gastsicht, gibt schließlich Andreas Stadler ab, wenn er die demokratischen und aufklärerischen Bemühungen im Nachkriegsösterreich einschätzt - wobei die Breitenwirksamkeit des Herrn Karl auch erwähnt werden sollte. Schließlich hieß das Café des Wiener Jüdischen Museums nicht zufällig mehrere Jahre lang Teitelbaum. (Michael Freund, DER STANDARD, 5.6.2013)