Während des Psychiatrie-Praktikums wurde es für Özlem Aslaner auch in der Praxis offenkundig: Das Unwissen über kulturelle Unterschiede führt immer wieder zu falschen Diagnosen und Behandlungen. Die 27-jährige Psychologin hat für ihr Diplom an der Universität Innsbruck Besonderheiten in der Stressbewältigung von Migrantinnen aus der Türkei untersucht.
Die Frauen teilen eine Erfahrung, die wenige Österreicherinnen kennen: plötzlich in einem völlig fremden Land zu leben. Große Unterschiede fand die zweisprachige Tirolerin beim Sprechen über Gefühle. "Die Frauen sagen oft, dass ihnen alles wehtut, sie sagen zum Beispiel: ,Alles kaputt' und blenden psychische Komponenten aus." Türkische Migrantinnen würden auch oft den Begriff "kötü duygu" verwenden - auf Deutsch etwa " schlechtes Gefühl" -, anstatt konkrete Gefühle zu benennen.
Die Wörglerin kann auch "cigerim yaniyor" (deutsch: "mir brennt die Leber") richtig deuten: "Diese Floskel drückt tiefe Trauer aus. Wer das Wort für Wort übersetzt, kommt auf eine körperliche Diagnose." Über Stress wird ebenfalls unspezifisch gesprochen.
Beim genauen Hinhören stellt sich heraus, dass das Alleinsein ohne soziales Netz oft das Belastendste für die Migrantinnen ist. Sie vertrauen sich ungern jemandem an - aus Angst, dass es öffentlich werden könnte. Die Sprachlosigkeit wird oft umschrieben, als "wäre man wieder ein Kind" oder "angewiesen auf jemanden". "Tarzan-Sprache" nennen es die Frauen, wenn sie sich beim Einkaufen mit Händen und Füßen verständigen.
Özlem Aslaner sieht nicht wie eine "richtige" Österreicherin aus und hat daher Erfahrung mit Zuschreibungen wie fremd und heimisch: "Ich kenne beide Kulturen und kann unterscheiden, ob etwas kulturell bedingt ist oder nicht. Oft wird da vorschnell geurteilt."
In ihrem Feld möchte sie immer so sorgfältig und neugierig arbeiten, als hätte sie es mit dem ersten Patienten und der ersten Fragestellung zu tun. Die übergeordnete Erkenntnis aus ihrer Diplomarbeit ist: Für und über Gastarbeiter wird wenig geforscht. "Alle fanden immer super, dass ich zweisprachig bin und die Ausbildung habe. Aber Stellen gibt es keine" , erklärt Özlem Aslaner. Missverständnisse, Vorurteile und Frustration sind im Gesundheitswesen besonders hinderlich. Migrantinnen werden dann eben medikamentös behandelt. Die Psychotherapie bleibt auf der Strecke. So könnten Symptome chronisch werden, warnt die Psychologin.
Im Februar 2012 bekam sie ein Stipendium für Nachwuchswissenschafterinnen der Uni Innsbruck - ein Fixbetrag, der ausreicht, um nicht Vollzeit arbeiten zu müssen und sich eine Dissertation leisten zu können. Die Garantie für eine Forschungsstelle gab es nicht, also arbeitet sie als klinische Psychologin und verfolgt die wissenschaftliche Karriere nebenbei.
In ihrer Doktorarbeit will sie den verbalen und mimischen Emotionsausdruck von türkischen Migrantinnen und ihren Töchtern vergleichen, um Unterschiede zwischen den Generationen und ihrer Sozialisation herauszufinden. Kulturell spezifische Darstellungsregeln will sie mittels Analyse von Videomikrosequenzen (Facial Action Coding System) festmachen - zumindest an einem Forschungstag pro Woche, den sie sich freischaufelt. (Astrid Kuffner/DER STANDARD, 5. 6. 2013)