Mai 2013 am Olsen Ice Cap in Grönland: Hier, wo im Sommer Schmelzwasser entsteht, liegt Ende des Winters sonst mehr Schnee.

Foto: Binder

"Heuer hatten wir Probleme, in Grönland mit dem Ski-Doo voranzukommen", sagt Daniel Binder von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG). Der Geophysiker und Glaziologe hat im Frühling den Nordosten Grönlands besucht. Dort, wo die ZAMG seit dem Polarjahr 2007 zwei Gletscher erforscht, beobachtete er ein für diese Jahreszeit ungewöhnliches Phänomen: Es gab kaum Schnee. Um einen der Gletscher zu erreichen, mussten die Forscher zwei Tage lang nach einer befahrbaren Passage suchen. Beim letzten Besuch betrug die übliche Fahrzeit von der dänischen Zackenberg-Station nur 40 Minuten, erinnert sich Binder.

Auch die Schneelage am Freya-Gletscher auf der Insel Clavering an der nordöstlichen Küste Grönlands, den die ZAMG erforscht, war entsprechend ungewöhnlich: Im Schnitt war die Decke lediglich 50 Zentimeter dick. Vergangenes Jahr waren es um diese Jahreszeit 255 Zentimeter. Laut Daten dänischer Forscher lag der Schneefall in der Region um 20 Prozent unter dem langjährigen Mittel. Der sieben Quadratkilometer große Talgletscher, der durchaus mit seinen alpinen Pendants vergleichbar ist, könnte heuer selbst bei einem durchschnittlichen Sommer relativ viel an Masse verlieren.

Aufgrund der geringen Schneedecke würde der Gletscher dann wahrscheinlich schneller ausapern, und die dunklere Oberfläche des Eises würde mehr Strahlung absorbieren. Die Folge ist eine größere Ablation. Für den Freya-Gletscher, bei dem die Glaziologen der ZAMG eine Massenbilanz erstellen, also Zugänge im Winter und Abgänge im Sommer messen, geht im Schnitt pro Jahr ein halber Meter der Eisdecke verloren. Heuer könnte sich die Abschmelzung also unter die extremeren Jahre einreihen. Die durchschnittliche Größenordnung ist dabei ähnlich wie bei den alpinen Gletschern in Österreich. Die Pasterze am Großglockner verliert etwa einen Meter pro Jahr.

Der ausbleibende Schneefall resultierte aus einem Hochdruckgebiet, das für längere Zeit stabil über dem Nordosten Grönlands verharrte. Ein derartiges Wetterphänomen kann im Zusammenhang mit dem Abschmelzen des Meereises stehen, erklärt Binder.

Dünnes Eis mit Folgen

Durch die schwindende Meereseisdecke können sich die polaren Gebiete nicht mehr so stark abkühlen wie bisher. Die Differenz zwischen den polaren und mittleren Breiten schwindet dadurch, was auch eine Veränderung der Zirkulationsmuster zur Folge hat, die das Wetter bestimmen. Weiter südlich gab es dafür mehr Niederschläge. "Der Zusammenhang lässt sich in Klimamodellen reproduzieren", sagt Binder.

Das zweite Projekt der ZAMG in Grönland ist ein Gletschersee am A. P. Olsen Ice Cap, 50 Kilometer landeinwärts. Ein kleines, durch eine Gletscherzunge versperrtes Tal am Rand der etwa 30 Kilometer im Durchmesser zählenden Eisdecke füllt sich jedes Jahr mit Schmelzwasser. Im Laufe des Sommers entsteht so ein ansehnlicher See, den der Gletscherwall irgendwann nicht mehr halten kann. Er bricht dann aus, und innerhalb weniger Stunden stürzt das Wasser, das sich über Monate angesammelt hat, aus dem Tal. Das lässt den Bach darunter für eine kurze Zeit zum reißenden Strom werden.

Was die Forscher an dem jährlich wiederkehrenden Phänomen interessiert, ist die Art und Weise, wie sich das Wasser innerhalb des Gletschers ausbreitet und schließlich zum Ausbruch des Sees führt. Binder und seine Kollegen gehen davon aus, dass sich das Wasser schon vor dem Bersten des natürlichen Damms durch die Eismassen gräbt. Auf welche Weise das vonstattengeht, sei aber noch kaum erforscht. Die Wissenschafter erstellen unter anderem eine Wasserbilanz und messen, wie viel Wasser in den See ein- und aus ihm abfließt. Mehrere seismische Sensoren - eine Art kleines Erdbebennetzwerk - sollen Bruchvorgänge innerhalb des Eises erfassen, die im Zusammenhang mit der Wasserausbreitung stehen. Ein geodätisches Netzwerk ermittelt mittels GPS-Sensoren, ob, wann und wie viel sich der Gletscher hebt, senkt oder beschleunigt. Die Daten geben Auskunft über den Verlauf der Wasserausbreitung, bevor es zum eigentlichen Ausbruch kommt.

Wasserflüsse im Gletscher

Das könnte Rückschlüsse erlauben, ob sich Wasser unter den Eispanzer drängt und so vielleicht die Reibung zwischen Fels und Eis verringert und die Fließgeschwindigkeit des Gletschers erhöht. Auch eine Kamera und Drucksensoren liefern zusätzliche Daten.

Die Massenbilanz des Olsen Ice Cap selbst wird übrigens von dänischen Forschern gemessen. Auch dieser Eispanzer verliert in einem dem Freya- Gletscher ähnlichen Ausmaß jährlich an Dicke. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 5.6.2013)