Mohammad Shaban, 38, ist Maurer. Er hat acht Kinder, sieben leben mit seiner Frau in Syrien.

Mohammad Elissa, 26, Elektriker, hat eine Schwester, die mit seinen Eltern in Syrien lebt. Eine andere Schwester und ein Bruder sind ins Ausland geflohen.

Foto: Standard/Newald

Julia Herrnböck sprach mit den Syrern Mohammad Shaban und Mohammad Elissa über das Leben vor dem Krieg und ihre Flucht nach Österreich.

STANDARD: Wie war ihr Leben vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs?

Elissa: In Damaskus war es normal, zumindest waren wir in Sicherheit. Seit dem Jahr 2000, als Baschar al-Assad an die Macht kam, wurde es wirtschaftlich zunehmend schwieriger. Es gab immer weniger Arbeit, vor allem für Akademiker. Vor dem Geheimdienst hatten wir auch früher Angst. Aber es war nicht üblich, dass Wohnungen mitten in der Nacht gestürmt wurden.

Shaban: Es ging mir relativ gut. Ich wohnte mit meiner Familie in einem Dorf in der Nähe von Aleppo. Es war ein ruhiges und sicheres Leben. Mit dem Einzug der Rebellen kam der Konflikt zu uns.

STANDARD: Wann haben Sie sich zur Flucht entschlossen?

Elissa: Im März 2011 bin ich das erste Mal bei friedlichen Demonstrationen mitgegangen, niemand hatte Waffen – trotzdem wurden wir beschossen. Am 8. Juli 2011 wurde bei einem Protest mit dem Namen "Freie Kinder" ein 11-Jähriger richtig massakriert, auch andere Kinder starben vor meinen Augen. Bei dieser Demo wurde ich das erste Mal verhaftet, danach noch sieben Mal. Am 7. September kam ich für zwei Monate ins Gefängnis. Dort wurdde ich gefoltert und egschlagen. Danach musste ich mich bei Verwandten verstecken, der Geheimdienst hat nach mir gesucht. Meine Eltern haben mich gedrängt das Land zu verlassen.

STANDARD:  Als Sie festgenommen wurden – was wurde ihnen vorgeworfen?

Elissa: Nichts konkretes. Jeder, der aufgegriffen wurde, musste drei Papiere unterzeichnen, dass er nie wieder an einer Demonstration teilnehmen wird. Sie haben auch unsere Fingerabdrücke genommen. Die Hälfte der Menschen, die erneut erwischt wurden, ist verschwunden.

STANDARD: Was war bei Ihnen der Auslöser zur Flucht?

Shaban: Im Dorf war es lange Zeit ruhiger, als in Damaskus. Irgendwann wurde auch in Aleppo demonstriert, etwa zwei Wochen später auch in den umliegenden Dörfern. Das Regime hat das mitbekommen und den Geheimdienst geschickt. Dann zogen die Rebellen ins Dorf, aus der Luft wurde von Assads Armee auf uns geschossen. Das trifft jeden, egal ob du involviert bist oder nicht. Es war nicht mehr sicher, wir teilten uns auf Verwandte auf. Die Entscheidung zur Flucht habe ich im Oktober 2012 getroffen. Im Dorf herrschte pure Anarchie, keiner vertraute dem anderen, überall gab es Spitzel – für die Rebellen und das Regime. Ich hatte ständig Angst um mein Leben.

STANDARD: Wie lange waren Sie unterwegs?

Shaban: Zuerst bin ich zu Fuß in die Türkei, das ist nur etwa eine Stunde entfernt. Dort warten viele Schlepper. Insgesamt habe ich eine Woche in einem Lkw verbracht, bis ich in Österreich ankam. So etwas ist schlimmer, als man sich das vorstellt.

Elissa: Ich habe zwei Wochen gebraucht um die Entscheidung zu treffen. Das war im September 2012. Meine Familie hat mir geholfen und mich von Damaskus bis zur türkischen Grenze in den Norden begleitet. Die Strecke ist sehr gefährlich, es gibt viele Checkpoints.  Dort wartete ein Bekannter auf mich. Bis nach Österreich war ich etwa dreieinhalb Tage in einem Lkw unterwegs.

STANDARD: Haben Sie das Ziel gewählt?

Elissa: Nein, der Schlepper entscheidet über die Route. Eigentlich wollte ich nach Deutschland.

STANDARD: Was haben Sie mitgenommen?

Shaban: Nur eine kleine Sporttasche, ein paar Lebensmittel.

Elissa: Der Fahrer lies uns nur abends zum Luftholen aussteigen. Wir waren zu dritt im Laderaum.

STANDARD: Wie war der erste Eindruck von Österreich?

Elissa: Als ich in diesem Grenzdorf ausgestiegen bin, habe ich mich erstmals seit langer Zeit sicher gefühlt. Die Kultur ist anders, so offen. Meine Probleme haben erst später angefangen.

Shaban: Im ersten Moment spürte ich Erleichterung. Zuerst wurde ich in Kärnten untergebracht und habe einen Asylantrag gestellt, dann wurde ich nach Wien übersiedelt. Ich habe subsidiären Schutz erhalten und  für 300 Euro ein Zimmer in der Kluckygasse gemietet. Es war recht heruntergekommen. (Der Standard berichetete http://derstandard.at/1363710522870/Fluechtlinge-in-Wiener-Massenquartier-Leben-kann-man-das-nicht-nennen)   Mit meinem Status darf ich nicht arbeiten und kann mir weder Provision noch Kaution für eine Wohnung leisten.

STANDARD: Haben Sie Kontakt mit ihren Familien und Freunden?

Shaban: Kaum, weil die Telefon- und Internetverbindungen selten funktionieren. Einer meiner Söhne ist im Libanon.Mit ihm telefoniere ich etwa einmal in der Woche. Er hat mir erzählt, dass sein Bruder, er ist 14, jetzt bei den Rebellen kämpft. Er trägt ein Gewehr und freut sich darüber (beginnt zu weinen).

Elissa: Meine Eltern leben in Damaskus, da ist es leichter. Wenn sie bei meinem Cousin sind, können wir manchmal skypen.

STANDARD: Wo wohnen Sie jetzt?

Shaban: Ich teile mir eine Garconniere mit einem anderen Mann.

Elissa: Bei Freunden in Favoriten. Ich warte seit sieben Monaten auf meine Einvernahme für das Asylverfahren. Ich habe seit der Folter immer noch gesundheitliche Probleme, aber keine Krankenversicherung. Mir wurde das Brustbein gebrochen. Ich bin privat zum Arzt gegangen und habe dem Richter ein Attest vorgelegt. Aber er meinte, ich muss trotzdem noch zwei Monate warten.

STANDARD:  Wie gut können Sie sich an die Flucht, den Krieg erinnern?

Elissa: Bei mir kommen vor allem die Bilder aus der Haft immer wieder. Und von der Folter.

Shaban: Ich denke vor allem an meine Kinder.

Elissa: Ich habe Sehnsucht nach meiner Familie und meinem Heimatland. (Shaban zeigt am Handy ein Foto seines jugendlichen Sohnes, der mit einem Gewehr posiert)

Shaban: Er kämpft bei der Freien Armee in unserem Dorf.

Elissa: All diese Kinder erleben schreckliche Dinge.

STANDARD:  Wie informieren Sie sich über das Geschehen in Syrien?

Shaban: Über das Internet und Fernsehen. Ich mache Tag und Nachts kaum etwas anderes. Teilweise stimmen die Berichte,aber manche Sendungen, vor allem die arabischen, sagen nicht immer die  Wahrheit.

Elissa: Die Nachrichten kommen aus verschiedenen Richtungen. Manchmal heißt es, die Freie Armee kontrolliert 70 Prozent der Orte, dann ist es wieder viel geringer. Dass etwa Katar politische Vorteile aus dem Konflikt zieht, wird nicht immer erwähnt.

STANDARD: Wie haben Sie sich in Syrien infomiert?

Elissa: Es gibt eigentlich nur noch staatliche Medien. Alle Information seites der Opposition sind „illegal". Ausländische Medien gibt es, aber es ist schwer sie zu bekommen. Viele ausländische Journalisten sind umgekommen.

Shaban: Russische Sendungen wurden zugelassen, weil sie für das Regime sind.

STANDARD: Wie hoch schätzen sie die Gefahr einer Radikalisierung durch Gruppen wie Al-Kaida ein?

Elissa: Der Bürgerkrieg in Syrien ist wie ein Fußballspiel: die Spieler strömen von allen Richtungen aufs Feld. Doch die Mehrheit der Syrer will diese Gruppen nicht, wir wollen Frieden. Keine Dikatur, keine Al-Kaida.

Shaban: Viele Gruppen mischen sich ein. Was hat zum Beispiel die Hisbollah damit zu tun? Gar nichts. Ich als Syrer kann das sagen: Ich will sie nicht in meinem Land.

Elissa: Das Land ist so weit weg von einem normalem Leben. Die Schulen sind teilweise gesperrt, entweder weil die Freie Armee sie als Basis benutzt, oder weil sie von der Luftwaffe angegriffen werden. Lebensmittel und Medikamente sind sehr teuer. Ein Kilo Tomaten hat früher etwa einen Euro gekostet, heute sind es fast neun.

STANDARD: Überlegen Sie, Ihre Familien aus Syrien zu holen?

Elissa: Ich mache mir Sorgen um meine Eltern. Nach 16 Uhr traut sich keiner mehr auf die
Straße, weil es so gefährlich ist. Ich hätte gerne, dass sie in den Libanon oder nach Ägypten gehen.

Shaban: Ich warte noch auf meine Visa-Verlängerung. Unser Leben hier als Flüchtling ist auch nicht unbedingt leicht, aber wenigstens ist man in Sicherheit.

STANDARD: Hätten Sie sich ein Eingreifen der Internationalen Gemeinschaft, wie 2011 in Libyen, gewünscht?

Elissa: Wer auch immer – Syrien braucht eine friedliche Intervention. Jemand muss diese Massaker  stoppen und uns helfen, das Leben zur Normalität zurückzuführen. (Elissa zittert, seine Körper wirkt erschöpft und leer). Von unserem Land sind vielleicht 30 oder 40 Prozent übrig, die nicht zertört sind. Es braucht eine Rechtsordnung und Verurteilungen von Verbrechen.

STANDARD:  Was halten Sie von möglichen Waffenlieferungen der EU an die Rebellen?

Elissa: Man muss die Bürger gegen das Regime schützen, aber Waffen bringen keinen Frieden. Es braucht eine politische Lösung.

Shaban: Wir wollen das retten, was übrig geblieben ist. (Langfassung des in DER STANDARD, 7.6.2013, erschienenen Interviews)