Pekinger Buchhandlungen laden Leser zum Träumen ein. Neuerscheinungen mit dem Titel Der chinesische Traum (Zhongguo Meng) stapeln sich auf ihren Tischen. Die Autoren aber sind keine Träumer. Sie lehren an Parteihochschulen, Armeeinstituten, Akademien oder Universitäten. "Chinas Traum", so schreibt die Zeitung Global Times' sei Teil der "neuen Leitideologie" des seit einem halben Jahr als KP-Chef amtierenden Xi Jinping.

Der 59-jährige Xi beschwor nach seiner Wahl den Wiederaufstieg Chinas mit gerecht verteiltem Wohlstand, weniger Korruption und einer gesunden Umwelt. Beim Besuch einer Pekinger Propagandaausstellung zur modernen Geschichte, wie die Partei mit der Gründung der Volksrepublik 1949 die Nation aus ihrer seit dem Opiumkrieg 1840 "erzwungenen Rückständigkeit und Schmach befreite", sagte er: "Heute sind wir dem Ziel der großen Erneuerung unserer Nation und der Verwirklichung unseres Traums so nahe wie noch nie gekommen."

Napoleons Warnung

Napoleon hatte einst gewarnt, China aus seinen Träumen zu wecken. "Lasst den Drachen schlafen. Wenn er sich erhebt, erzittert die Welt", soll er auf St. Helena 1817 dem britischen Lord Amherst gesagt haben. Der fragte um Rat, weil er damit gescheitert war, Chinas Kaiser Jiaqing zu Handelskonzessionen zu überreden.

Peking lässt den Drachen fast 200 Jahre später selbst wecken. Im ersten Schritt soll China bis 2021 das Pro-Kopf-Einkommen seiner 1,4 Milliarden Menschen verdoppeln und damit den Status eines Entwicklungslandes ablegen. Bis 2049 soll das Reich der Mitte dann die USA überholt haben.

Der Zeitplan stammt vom Reformpolitiker Deng Xiaoping, der vor 35 Jahren mit einer pragmatischen Politik Chinas Produktivkräfte aus ihren planwirtschaftlichen Fesseln befreite. Xi gibt den Plänen unter dem Motto des chinesischen Traums nun jedoch einen ideologischen Anstrich. Am Tag seiner Wahl gab er seine Losung der "doppelten Hundert" bekannt: 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei 2021 und 100 Jahre Volksrepublik 2049. Der Aufstieg zur Weltmacht soll pa­triotisch inszeniert werden.

Pekings neue Führer setzen auf globale Ziele, nennen sie "Kerninteressen" und begründen sie nationalistisch und mit historischen Ansprüchen. Dies gilt besonders für ihren eskalierenden Territorialstreit mit Japan und mit Anrainerstaaten Südostasiens um den Zugriff auf riesige See- und Inselterritorien im Ost- und Südchinesischen Meer. Die International Crisis Group nennt die Lage so gespannt, dass ein kleiner Vorfall sie unkontrolliert entzünden und die USA als Verbündeten der asiatischen Mächte in den Konflikt hin­einziehen könnte. Der frühere ­US-Außenminister und erklärte China-Freund Henry Kissinger zeigt sich alarmiert. Auf einem Zukunftsforum in New York sagte er, die USA und China müssten lernen, Probleme miteinander statt gegeneinander zu regeln. Sonst "würden sie die Menschen überall zwingen, sich dem einen oder dem anderen Modell anzuschließen".

Kissingers Warnung

Im Vorfeld des Treffens zwischen Xi und Barack Obama zitierte Kissinger aus einer Harvard-Studie, warum dieser Gipfel so wichtig ist. In der Weltgeschichte gab es bisher 15 Beispiele für aufsteigende Staaten, die die etablierten Mächte herausforderten. In elf Fällen führte das zu Konfrontation und Krieg.

Vor seiner Abreise sagte Xi, er hoffe, sich mit Obama auf einen
"neuartigen Typ der Beziehungen zwischen großen Mächten" verständigen zu können. Ein selbstbewusster Xi will Obama erklären, was es mit Chinas Traum auf sich hat. Der Staats- und Parteichef habe seit seinem Amtsantritt alle umstrittenen Bereiche der Außenpolitik zu seiner Chefsache gemacht, sagt Han Qingxiang, Institutsleiter an der Parteihochschule, deren Direktor Xi bis 2012 war. In der Theoriezeitschrift Tribüne schreibt er, dass sich niemand im freundlich wirkenden Xi täuschen sollte. Er sei "nach außen rund und nach innen kantig". (Johnny Erling aus Peking /DER STANDARD, 7.6.2013)