"Wir wollen, dass er sich entschuldigt. Aber wir wissen, dass er es nicht tun wird": Taksim-Protestierer Altug, Senim, Mesut und Dursun. (von links)

Fotos: Florian Schuh

Sie gehören keiner Partei an, viele machen zum ersten Mal bei politischen Kundgebungen mit – und sie wollen bleiben, bis der türkische Premier Tayyip Erdogan zurücktritt.

Es gibt Leute, die "Gratis-Umarmung" auf einen Karton schreiben und das dann auch freudig tun. Türken aus Artvin, weit oben an der Schwarzmeerküste Richtung Georgien, die ihren Dudelsack aufblasen und einen wilden Tanz aufführen. Die Fraktion "Antikapitalistische Muslime", die schwarze Fahnen mit einem roten Punkt gehisst hat und ihre Reden unter allgemeinen Beifall mit dem Schlachtruf "Brot, Allah, Freiheit!" beendet. Melonenverkäufer schließlich, die nachts Berge abgegessener rot-grüner Schalen auf ihren Handwägen durch die Menge schieben, die nicht nach Hause gehen mag. Taksim ist ein Gesamtkunstwerk geworden.

"Niemand führt hier, jeder findet seine Rolle", sagt Altug, der mit seiner Frau Sinem nun jeden Abend hier ist. Nach einer Woche Besetzung und Regierungsprotesten, die das ganze Land erfasst haben, steht die Zeit auf Istanbuls größten Platz scheinbar still. Eine unwirklich anmutende Routine, Tag für Tag getragen von Zehntausenden, hat sich breitgemacht. Man kocht, macht Yoga, verleiht Bücher, verschenkt Wasserflaschen, diskutiert den Schutz des Gezi-Parks. Jeder ist lieb. Woodstock, Castor-Transport und Tahrir-Platz in Kairo in einem. "Wir sind als eine Generation der Unpolitischen erzogen worden. Unsere Eltern und Großeltern wussten, was links und rechts ist und wie eine Demonstration aussieht", erklärt Altug, ein 38-Jähriger, der als Unternehmer in der Verpackungsbranche arbeitet. Als die Generäle zuschlugen, war er noch ein Kind.

Der Militärputsch von 1980, der Linke wie Rechte ins Gefängnis brachte, hat am Ende dem politischen Islam von Tayyip Erdogan den Weg gebahnt. Und Erdogans autoritärer Stil und seine Politik der Islamisierung, so sieht es nun aus, haben am Ende die Tür zu einem Bürgerprotest jenseits der politischen Parteien aufgestoßen. Die Türkei erlebt eine neue Zeit.

Das Atatürk-Kulturzentrum, eigentlich ein dunkler Glas- und Betonkasten aus dem 1970er-Jahren auf einer Seite des Taksim-Platzes, bekommt jeden Tag neue Farbe - riesige Transparente, die zum Streik aufrufen. Auf dem Dach stehen Fotografen und Aktivisten, einen Finger groß, und bewundern das Spektakel. Das AKM, wie es abgekürzt heißt, ist immer noch ein Symbol der laizistischen Türkei. Güler Sabanci, eine der führenden Industriellen des Landes, hatte angeboten, es mit eigenen Mitteln zu renovieren. Die Demonstrationen gegen den Umbau des Taksim-Platzes und die Abholzung des dortigen Parks waren schon im Gang, als Erdogan bekannt gab, dass er auch das AKM abreißen lassen werde. "Halt den Mund, Tayyip", steht auf der Fassade, viele Meter groß.

"Wir wollen, dass er sich entschuldigt", sagt Mesut, ein anderer junger Mann, der schon am Tag des großen Polizeieinsatzes auf dem Taksim war, als die Demonstranten mit faustgroßen Tränengaskartuschen beschossen wurden. "Aber wir wissen, dass er es nicht tun wird. Wir bleiben trotzdem hier", sagt der 27-jährige Grafiker "Bis er unsere Forderungen akzeptiert."

Diesen Gefallen tut der türkische Premier seinen Bürgern bisher nicht. Noch in Tunis am Donnerstag, vor seinem Rückflug nach Istanbul, stellte er bei einer Pressekonferenz klar: Seine Regierung werde das Bauprojekt fortsetzen. Anstelle des Parks wird ein historisches Garnisonsgebäude wiedererrichtet.

Natürlich gibt es die kleinen linken Splittergruppen, die Marxisten und die Anarchisten, die sich kleine Lager aus Bauabsperrungen gebaut haben. Die Mehrheit auf dem Taksim-Platz aber, 70 Prozent, so stellte die Bilgi-Universität in Istanbul in einer Internetumfrage fest, rechnet sich keiner politischen Partei zu. Mehr als die Hälfte nimmt zum ersten Mal an einer politischen Kundgebung teil. Und immer wieder ziehen noch die Fanklubs der eigentlich verfeindeten Vereine Besiktas, Galatasaray und Fenerbahçe ein, schwenken mit den Armen wie Faschingsprinzen und zünden Leuchtraketen an. "Ich habe noch nie so etwas gesehen", sagt Dursun, ein 39-jähriger Filmemacher. "Kleinere Besetzungen, ja, aber nicht so etwas. Das hier ist ziviler Widerstand gegen den einen Mann, auf dessen Mund jeder schaut."

Das Ende ist offen

Wie wird es enden? Niemand hat eine Ahnung. "Alles wird seinen eigenen Weg finden", glaubt Altug zuversichtlich. "Wir wollen Erdogans Rücktritt. Die Leute werden dann aktiver und stärker."

"Çapulcular" hat Erdogan die Demonstranten genannt, ein paar "Plünderer" - da waren es schon Tausende. Im Gezi-Park bietet eine junge Frau auf einem Verkaufstisch bunte Schwimmbrillen an als Schutz gegen das Tränengas. "Achtung, Plünderer!" steht auf dem Button ihrer Bluse. Sie trägt Kopftuch. (Markus Bernath aus Istanbul /DER STANDARD, 7.6.2013)