Im Herbst wählt Österreich einen neuen Nationalrat, und ein Wahlkampfthema ist so vorhersehbar wie emotional aufgeladen: Über straffällige Ausländer will die FPÖ "schonungslos Realitäten und Wahrheiten" aufzeigen. Wer das nicht anerkenne, sei ein "Schutzpatron der Kriminellen", sagt FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache.

Einer dieser Umstände: Mittlerweile besitzt fast jeder zweite Gefängnisinsasse im Land keine österreichische Staatsbürgerschaft. Hinter der auffälligen Zahl stecken allerdings komplexe Hintergründe, die über einfache Plakatparolen weit hinausgehen.

Weniger Österreicher und mehr Fremde in Haft

Relativ zur Gesamtbevölkerung sitzen in Österreich heute deutlich weniger Menschen in Haft als noch in den 1980er Jahren. Wegen des Bevölkerungzuwachses hat seither aber die absolute Zahl der Insassen mit über 9.000 einen neuen Höchstwert erreicht.

Das liegt jedoch nicht an einer steigenden Anzahl österreichischer Häftlinge. Ihre Zahl sank zuletzt sogar. Laut Vollzugsbericht ist es ein größer werdender Anteil nichtösterreichischer Staatsbürger, der zum Anstieg der "Justizanstaltenpopulation" beitrug. Die Ausländerquote im Vollzug lag im Vorjahr bei 47,9 Prozent, während sie in der Gesamtbevölkerung 11,5 Prozent betrug.

Dass der Anteil von Fremden in Kriminalitätsstatistiken höher ist als jener an der Gesamtbevölkerung, ist in den meisten Ländern die Regel und lässt sich teilweise mit der größeren Anzahl an Delikten erklären, gegen die Ausländer verstoßen können. Verletzungen des Fremdenrechts etwa sind nichts, worüber sich Inländer Gedanken machen müssen.

Zur Zahl der Urteile gegen Nichtösterreicher hält der aktuelle Integrationsbericht fest: "Rund 32 Prozent der von Österreichs Gerichten im Jahr 2011 verurteilten Personen waren Ausländer. Bezogen auf die Bevölkerung gleicher Staatsangehörigkeit über 14 Jahren (dem Mindestalter für eine gerichtliche Verurteilung) wurden rund viermal so viele ausländische Staatsangehörige gerichtlich verurteilt (1,4 Prozent) wie Österreicher (0,4 Prozent)."



Die absolute Zahl an Häftlingen ist in den vergangenen Jahren angestiegen. (Foto: Patrick Seeger/dpa)

Überwiegender Teil der Bevölkerung bleibt unbescholten

Weil die Zahlen keine Rücksicht auf unterschiedliche Alters- und Geschlechtsstrukturen nehmen, müssen die Daten laut dem Bericht der Statistik Austria für einen gültigen Vergleich bereinigt werden. Demnach ist bei Ausländern der Anteil der 15- bis 40-jährigen Männer um 40 Prozent höher als in der österreichischen Bevölkerung – und diese Alters- und Geschlechtsgruppe wird herkunftsübergreifend deutlich öfter straffällig.

"Bereinigt um die Altersstruktur reduzierte sich der Anteil der verurteilten Ausländer an der Referenz-Bevölkerung auf 1,0 Prozent und betrug somit nur noch das 2,7-Fache des Anteilswerts der Inländer", so die Autoren des Berichts.

Dreht man die Werte um und stellt also den Anteil nichtverurteilter Menschen gegenüber, wird deutlich: Unabhängig von der Nationalität blieb ein annähernd gleich großer Teil der Bevölkerung unbescholten: Auf ganze Prozent gerundet erhielt jeder Hundertste einen Eintrag ins Strafregister.

Tatsächlich sei die "Kriminalitätsbelastung" von in Wien wohnhaften Ausländern überschätzt und "weitgehend unauffällig", heißt es in einer Expertise, die die Gemeinde Wien im Vorjahr beim Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS) in Auftrag gegeben hat. Die Kriminalitätsbelastung berechnet die Anzahl von strafbaren Handlungen je 1.000 Bewohner.

Laut dem Papier lag die Belastung der österreichischen Staatsbürger im Jahr 2010 bei 31,3, jene der Staatsbürger der 15 "alten" EU-Länder bei 13,6 und jene der Angehörigen der zwölf "neuen" EU-Länder bei 21,6. Die in Wien lebenden Menschen mit Pass aus den Ländern zwischen Estland und Rumänien waren demnach um fast ein Drittel seltener an strafbaren Handlungen beteiligt als Österreicher.

Staatsbürger aus den Balkanstaaten und der Türkei fassten die Autoren in einer Gruppe zusammen; ihr Wert lag mit 35,1 etwas über jenem der Österreicher. Eine signifikant höhere Kriminalitätsbelastung hatten nur die "sonstigen" Bewohner Wiens mit 49,6 strafbaren Handlungen je 1.000 Einwohner.

Wie kommt es dennoch zum hohen Anteil fremder Staatsbürger in den Gefängnissen? Die bisherigen Zahlen beziehen sich auf in Wien wohnende Ausländer. Deutlich höher ist die Zahl inklusive jener Personen, die keinen festen Wohnsitz in Wien haben. Das sind 54 Prozent aller tatverdächtigen Fremden.

Dieser Gesamtwert erreicht bei Angehörigen der EU-15-Länder 33,7, bei jenen der Balkanstaaten und der Türkei 65,7, bei den "Sonstigen" 77,4 und bei Angehörigen der EU-16-27-Länder 109,7. Diese Zahlen weisen einerseits auf im nahen Ausland lebende Personen hin, die sich nur temporär in Österreich aufhalten – plakativ ausgedrückt auf "Grenzkriminalität". Andererseits legen sie eine höhere Kriminalitätsbelastung bei Menschen ohne oder mit unbekanntem Aufenthaltstitel und folglich ohne legale Beschäftigungsmöglichkeit nahe.

Dass für die Überrepräsentation in den Gefängnissen nicht in erster Linie die regulär hier wohnenden Zuwanderer verantwortlich sind, bekräftigen Veronika Hofinger und Walter Fuchs vom IRKS auch im Gespräch mit derStandard.at: "Der Hauptgrund ist wohl, dass sich durch die erhöhte Mobilität mehr nicht integrierte Ausländer in Österreich aufhalten. Darunter gibt es durchaus Gruppen, die in illegale Geschäfte involviert sind und gegen die sehr konsequent Haft verhängt wird", sagt Hofinger.

"Speziell reduzierte gesellschaftliche Teilhabe"

Laut dem Bericht des IRKS zeigen sich jeweils zwei Gruppen fremder Nationalität als sehr "einseitig" auffällig, nämlich Bürger aus den EU-16-27-Staaten und Bürger aus Drittstaaten jenseits des Balkans und der Türkei, also vorwiegend Subsahara-Afrikas. Diese Auffälligkeiten lägen einerseits bei bestimmten Diebstahlsdelikten, andererseits bei Suchtmitteldelikten.

"Beides ist, ebenso wie die Unauffälligkeit bei jeglicher Alltagskriminalität sonstiger Art, Anzeichen für eine spezielle und eine speziell reduzierte gesellschaftliche Teilhabe dieser Gruppen. Ihre 'Integration' in soziale und ökonomische Prozesse hat einen spezifischen Charakter. Sie bedienen in ungeschützten und riskanten Geschäftsbereichen die Nachfrage nach verbotenen Gütern und Leistungen", so die Expertise.

Zwei Anstiege in zwei Jahrzehnten

"Wenn man wie in Österreich und speziell in Wien ein ziemlich großes Wohlstandsgefälle vor der Haustür hat, bringt das – vorsichtig ausgedrückt – eine 'graue Ökonomie' mit sich", sagt Fuchs. Dass diese illegalen Geschäfte nicht unverfolgt blieben, zeigen zwei Steigerungen beim Anteil der Fremden in der Verurteilungsstatistik. Der erste Zuwachs lässt sich konkret mit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Verbindung bringen, der zweite war nach der Osterweiterung der EU Mitte der 2000er Jahre zu beobachten.

Eine faktisch höhere Kriminalität von Fremden ist zwar der Haupt-, aber nicht der einzige Grund für ihren unverhältnismäßig hohen Anteil an Verurteilungen und Gefängnisaufenthalten. Daneben deuten die Statistiken auf eine Reihe struktureller Faktoren hin, die die Zahlen in unterschiedlichem Maß erhöhen.

Ausländer werden eher verurteilt

So bestrafen Gerichte Ausländer eher als Österreicher: Auf hundert Tatverdächtige fremder Nationalität kommen im jüngsten Erhebungszeitraum 16 Verurteilte und zwölf Inhaftierte. Von der gleichen Anzahl tatverdächtiger Österreicher wurden 13 gerichtlich verurteilt und nur vier in Haft genommen.

Laut IRKS-Bericht liegt das auch daran, dass unter Ausländern "häufiger Drogen- oder Vermögensdelinquenten sind als unter StraftäterInnen gegen die körperliche Integrität oder Freiheit, die vergleichsweise zurückhaltend verfolgt werden".

Bei der Untersuchungshaft sei es unter anderem darauf zurückzuführen, dass Richter auch bei vergleichsweise leichten von Ausländern begangenen Delikten eher Fluchtgefahr annehmen als bei Österreichern. Die Alternative zur Untersuchungshaft sei nämlich faktisch oft ein "Laufen-Lassen".

Das Kriterium Vorstrafe

Unbescholtene Ausländer werden im Schnitt härter belangt als vorbestrafte Österreicher: Ausländer ohne Vorstrafe müssen in 45 Prozent der Fälle mit un- oder teilbedingtem Freiheitsentzug rechnen. Bei Österreichern sind das nur 10 Prozent. Sogar vorbestrafte Einheimische wandern seltener hinter Gitter als Ausländer mit makellosem Leumundszeugnis.

Diversion steht nicht jedem offen

Differenzen zwischen In- und Ausländern zeigen sich in der Kriminalitätsstatistik auch bei der Diversion. Seit dem Jahr 2000 können auf diese Weise Fälle, die zuvor mit bedingten Haft- oder Geldstrafen geahndet wurden, ohne förmlichen Strafprozess beendet werden. Mit diversionellen Maßnahmen werden 21 Prozent der Strafverfahren gegen Österreicher erledigt; bei Fremden sind es nur 11 Prozent. Hier fallen fast doppelt so viele Inländer aus der Verurteilungsstatistik.

Zum Teil liegt das laut Fuchs auch an sozioökonomischen Umständen. Angehörige einkommensschwächerer Schichten, zu denen nichtösterreichische Staatsbürger vergleichsweise häufig zählen, werden seltener zur Diversion zugelassen. Auch mangelnde Deutschkenntnisse mancher Angeklagter können eine Rolle spielen.

Der Strafvollzug als "selbsterhaltendes" System

Denkbar ist laut Fuchs und Hofinger auch eine Tendenz des Strafvollzugs zum "selbsterhaltenden System": Wenn immer weniger Österreicher inhaftiert werden und die Gefangenenpopulation dadurch insgesamt sinkt, können einzelne Anstalten auch von der Schließung bedroht werden. Fast exakt gleiche Zahlen in der Wiederverurteilungsstatistik deuten darauf hin, "dass sich das System selbst reproduziert".

Auch eine geringe Belastung kann problematisch sein

Bei den vorliegenden Zahlen muss freilich immer berücksichtigt werden, dass es sich um Interpretationen handelt. So kann eine geringe Kriminalitätsbelastung einer bestimmten Gruppe einerseits so ausgelegt werden, dass ihre Angehörigen tatsächlich weniger Straftaten begehen.

Andererseits kann sie auch bedeuten, dass Verbrechen innerhalb dieser Gruppe seltener zur Anzeige und somit zur Ahndung gelangen. Niedrige Werte bei gewissen Delikten könnten zum Beispiel daran liegen, dass Opfer aus diesem Kreis den Zugang zu Rechtsinstitutionen oft scheuen, sagt Walter Fuchs.

Strafrechtsreform gegen strukturelle Diskrepanzen

Fest steht jedenfalls, dass die hohe Quote nichtösterreichischer Staatsbürger im heimischen Strafvollzug ein Problem darstellt. Sie signalisiert laut dem IRKS-Bericht, dass ein kleiner Teil des ausländischen Bevölkerungsanteils "Schwierigkeiten mit geltenden Normen und der Teilnahme am öffentlichen gesellschaftlichen Leben" hat.

Bei den strukturellen Diskrepanzen sieht Veronika Hofinger auch den Gesetzgeber unter Zugzwang: "Es fehlen in dieser Hinsicht die politischen Ideen und der Gestaltungswille. Man kann nur auf die Reform des Strafgesetzbuches 2015 hoffen."

Dabei soll etwa die Gewerbsmäßigkeit bei Diebstählen – ein Vorwurf, mit dem Ausländer oft konfrontiert sind, und der die Strafandrohung selbst ohne äußeren Beweis um ein Vielfaches erhöht – überarbeitet werden. Damit habe sich die Arbeitsgruppe in einer ihrer ersten Sitzungen beschäftigt, sagte der Leiter der Strafrechtssektion im Justizministerium, Christian Pilnacek, kürzlich in einem STANDARD-Interview. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 13.6.2013)