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Tony Judt (1948-2010), hier 2007 bei einem Interview in Wien.

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Nachdenken über das 20. Jahrhundert entstand in einer extremen Situation. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hatte 2008 erkannt, dass seinem Fachkollegen, Mentor und Freund Tony Judt nicht mehr viel Lebenszeit bleiben würde. Judt litt an einer unheilbaren, degenerativen Nervenkrankheit, er konnte bald nicht mehr schreiben, schließlich nur noch sprechen.

Also beschloss Snyder, ihn regelmäßig zu besuchen, ihm zuzuhören, gelegentlich selbst beizutragen und das Ergebnis dieses eineinhalbjährigen Prozesses, eines Wettlaufs mit der Zeit, posthum zu veröffentlichen.

Es ist das intellektuelle Vermächtnis des großen Zeitgeschichtlers Judt geworden, und mehr: Es geht in den Gesprächen zu einem guten Teil um die Rolle der Intellektuellen, insbesondere der französischen und britischen, in den Grabenkämpfen der letzten hundert Jahre, um deren Wurzeln, die viel weiter zurückreichen, um die Bedeutung von Mittel- und Osteuropa für ein Verständnis der Welt, wie sie heute aussieht.

Es geht auch um das Verhältnis - das nie eine Einbahnstraße ist - zwischen gesellschaftlichem Umfeld und individueller Biografie; Judt reflektiert es in beeindruckendster Weise. Er verknüpft die Stationen seines Lebens - London, Paris, Kalifornien, wieder England und Frankreich, schließlich New York - mit seinem unermüdlichen Forscherdrang. Er zeichnet die Wendungen, auch Sackgassen seiner Arbeit nach und verfolgt in ihnen die mehr oder weniger großen, erhellenden oder irregeleiteten Narrative, die zum Verständnis der Gegenwart beitragen.

Ehre oder Fett

Schier unerschöpflich ist der Fundus an Autoren und Zeitgenossen, aus dem Judt, immer aus dem Gedächtnis, zitiert - wobei Snyder sich als ebenbürtiger Stichwortgeber und Gesprächspartner erweist. Die Quellen stammen keineswegs nur von Fachkollegen, sondern gehen quer durch die Literatur, das Feuilleton, die Medien, von Shakespeare bis Steinbeck, von Arendt bis Zizek.

Angesichts der Bandbreite fällt auf, dass die Frankfurter Schule, bis auf den Nachfahren Habermas, gar nicht vertreten ist. Ihr scheint der frankophile Brite und Kosmopolit wenig Bedeutung beigemessen zu haben, sie gehörte nicht zu seinem engeren Bezugsrahmen.

Nachdenken ist schließlich auch Judts sehr persönliches, manchmal ironisches, selbstironisches Testament, wie er es in anderer Weise im Chalet der Erinnerungen verfasst hat. Seine Familie, seine Lieben, seine Kollegen und Widersacher: Ihnen wird, je nachdem, Ehre oder Fett zuteil.

Selten werden in so konzentrierter Form so viel Einsicht und Lesegewinn zugleich vermittelt. Wer unsere Zeit besser verstehen will, soll diese Vermessung lesen.  (Michael Freund, Album, DER STANDARD, 8./9.6.2013)