"Das ist keine Reise in die Vergangenheit, es ist eine Reise durch die Gegenwart": Christoph W. Bauer.

Foto: Haymon, Florian Schneider
Foto: Haymon

Im November 1938 wurde Richard Graubart in Innsbruck von heimischen SS- Männern erstochen. Der jüdische Kaufmann war bei diesem Pogrom eines von vier Mordopfern in der Stadt, für deren wirtschaftlichen Aufschwung am Anfang des 20. Jahrhunderts die Namen Schwarz, Bauer, Brüll, Pasch, Graubart stehen.

Die Männer, Frauen und Kinder der jüdischen Familien wurden verletzt, bestohlen, vertrieben, getötet. Die Überlebenden mussten zu Beginn der Zweiten Republik langwierige, demütigende "Rückstellungsverfahren" durchstehen, um bestenfalls erst in den Fünfzigerjahren einen Teil ihres Besitzes oder Entschädigungen zu erhalten. Einer der Mörder von Richard Graubart war nach Kriegsende geflüchtet; als er 1959 nach Österreich zurückkehrte, hatte er nur zwei Jahre in der Haft abzusitzen.

Diese zwei exemplarischen Lebensgeschichten erzählt der zuvor vor allem mit seiner faszinierenden Lyrik hervorgetretene Christoph W. Bauer 2008 in Graubart Boulevard, dem packenden Ergebnis seiner Spurensuche.

Auf die Spuren der letzten Überlebenden jener Innsbrucker Familien hat sich Bauer kürzlich gemeinsam mit einem kleinen Projektteam begeben. Mit zehn Frauen und Männern führte er in ihrer "ersten Fremde", in England und in Israel, Gespräche. Aus ihren Erinnerungen und mit ihren Fotos formte er zehn eindrückliche jüdische Lebensbilder. Dabei steht nie der fragende, der ordnende Autor im Vordergrund, sondern immer die Erzählung der Menschen, die vertrieben worden waren, sodass ihnen ihre Heimat zur "zweiten Fremde" wurde.

In unaufgeregter Sympathie und wohltuender sprachlicher Klarheit schafft Christoph W. Bauer diese Porträts, die sich wiederum zu einem Gesamtbild fügen, das den Fortgang der Geschichte bis ins Heute zeigt. Am Ende von Graubart Boulevard macht sich der Nachforschende noch einmal auf den Weg zum ehemaligen Geschäft der Familie und vermerkt: "In den Erzählungen von Vera und Michael Graubart wird die Straße zum Boulevard, der sich um die Stadt legt, um sie daran zu erinnern, was sie sich selbst genommen hat."

Die Geschichten von Vera und ihrem Cousin Michael bringt Bauer nun in Die zweite Fremde nahe. Vera, der Tochter von Richard Graubart, ist die Pogromnacht im Ohr geblieben, das Gebrüll und Poltern im Treppenhaus, und: "Ich höre immer noch, wie mein Vater plötzlich gellend aufschreit." Mit dem letzten Kindertransport gelangte sie nach England, die Ankunft war ein "Einzug ins Verstummen" - wochenlang sprach sie kein Wort mehr. Ab 1953 reiste sie oftmals zurück nach Tirol, jedoch hatte sie es aufgegeben, sich als Österreicherin zu fühlen.

Die Frage der Heimat stellt sich für alle zehn Porträtierten, waren sie doch alle aus ihrer Umgebung, aus ihrer Kindheit und ihrer Sprache gerissen worden. Der Musiker Michael Graubart, dessen Vater die Nazis eine florierende Kette von Schuhgeschäften wegnahmen, ist seither nur einmal nach Wien gekommen. Jede Begegnung in der Stadt sei von einem schwer beschreibbaren Gefühl überlagert worden.

Vera Adams war vor drei Jahren zuletzt in Innsbruck, zur Wiedereröffnung des Kaufhauses Tyrol in der Maria-Theresien-Straße - an der Stelle hatte ihre Familie 1938 das erste moderne Großkaufhaus Westösterreichs besessen. Die Berge, der Schnee, das Wandern, das ist es, "what attracted me in Austria". Damit gibt sie eine Bindung an, die alle zehn Vertriebenen ähnlich empfinden. In ihrer Wohnung nördlich von London erinnert sich Dorli Neale, wie sie als Kind zur Dresdner Hütte unterhalb des Stubaitaler Gletschers aufgestiegen war, ein Foto zeigt das kleine Mädchen beim Skifahren. Heute sei Innsbruck für sie "eine fremde Welt".

Auch Judith Shomroni, Abraham Gafni, Peter Gewitsch und Abi Bauer in Israel erzählen davon, wie ihnen ihre Welt zusammengeschlagen wurde, von Gewalt und Demütigung, von den Ängsten auf der Flucht und den Nöten des Neubeginns. Hans und Felix Heimer, die in Manchester leben, bringen es auf den Punkt: "Der 11. März 1938, das war so ein Abbruchtag, danach war alles vorüber, alles. Ohne dass man sich das irgendwie ausmalen konnte, was da nun kommen wird." Sie alle wurden aus ihren Plänen und Träumen gerissen, sie mussten nicht nur in einer anderen Sprache Fuß fassen, sondern auch ihre verdrängen. Sie konnten sie nicht mehr gebrauchen und wären damit in ihrer Fremdheimat oft nicht gerne gehört worden, war sie doch jene der Mörder.

Was ist, angesichts dieser Lebensbilder, Heimat? Die Frage zieht sich durch das Buch. "Ein Punkt auf der Landkarte, ein Geruch, eine Empfindung, eine Seelenlandschaft?" In einem seiner wenigen, zurückhaltenden Kommentare bemerkt Christoph W. Bauer, die Natur "als Konstante im Heimatbegriff": Wie "ein Topos tauchen die Gipfel in den Erinnerungen auf, das Unverrückbare" und - das "Schuldlose" als Metapher für das Vermisste.

Und Bauer hat recht, wenn er schließt, dieses Buch "ist keine Reise in die Vergangenheit, es ist eine durch die Gegenwart".   (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 8./9.6.2013)