STANDARD: Wie weit reicht der Protest tatsächlich in die türkische Gesellschaft hinein? Sind es mehr als die säkularen vielleicht 30 oder 40 Prozent im Land?
Cizre: Gute Frage. Ich glaube, die Unzufriedenheit und Enttäuschung über diese Regierung ist mittlerweile groß, und dieses Gefühl reicht tief in die Gesellschaft. Die AKP ist seit mehr als zehn Jahren an der Macht, nun steht sie zum ersten Mal einer lauten, nicht wirklich organisierten Bewegung gegenüber. Es war eine Ohrfeige für sie. Nun könnte man denken, diese Leute, die protestieren, repräsentieren den üblichen säkularen Block. Sie haben nie die AKP gewählt. Aber das ist die Überraschung: Sie finden sich auch nicht in der etablierten Opposition wieder.
STANDARD: Wie steht die AKP-Regierung nun da? Sie hat versucht, die Proteste mit Gewalt aufzulösen ...
Cizre: In modernen demokratischen Staaten würden der Innenminister und der Polizeichef gehen. Das ist es, was hier falsch läuft. Rücktritt gehört nicht zur politischen Kultur in der Türkei. Was Erdogan angeht: Sein Traum, die Verfassung zu ändern und Präsident zu werden, ist vorbei. Das ist das wichtigste Ergebnis dieses Protests. Die Balance hat sich verschoben, hin zum moderaten amtierenden Staatspräsidenten Gül.
STANDARD: Neuwahlen sind angeblich vom Tisch.
Cizre: Vorgezogene Neuwahlen wären eine logische Option, wenn Erdogan sicher wäre, dass er sie auch wieder gewinnen wird. Pro-AKP-Leute, mit denen ich dieser Tage gesprochen habe, sind davon aber überzeugt, trotz der negativen Atmosphäre im Land. Wenn heute Wahlen wären, würde Erdogan einen Erdrutschsieg bekommen, so glauben sie. Denn Sie müssen eines sehen: Die religiösen Menschen im Land, die starken Unterstützer der AKP, fühlen sich von den säkularen Gruppen bedroht. Wenn es die AKP nicht gäbe, würde der säkulare Block sie in Stücke reißen, so formulieren sie es.
STANDARD: Große öffentliche Proteste gab es in der Türkei schon in den 1970er-Jahren, vor dem Putsch von 1980. Das waren gewalttätige Zeiten, aber gab es damals eine ähnlich liberale Atmosphäre wie heute auf dem Taksim-Platz?
Cizre: Nicht wirklich. Das Land war damals auch sehr polarisiert, aber zwischen Linken und Rechten - sehr radikalen Kräften. Für die normalen Leute gab es keinen Platz, sie waren bei diesen Auseinandersetzungen einfach nicht da. Ganz anders als heute. Hier sind Leute auf der Straße, die nie einen Parteiführer oder ein Programm hatten, mit dem sie sich identifizieren konnten.
STANDARD: Was bedeutet diese Protestbewegung für die Demokratisierung der Türkei?
Cizre: Sie ist sehr positiv. Diese Bewegung ist einzigartig für die Türkei. Das Militär ist nicht da, die Republikanische Volkspartei, die größte Oppositionspartei, hält sich heraus. Es ist eine Bewegung ohne Form, ohne Führer. Sie hat einen enormen psychologischen Effekt auf die Menschen in der Türkei, die mehr Demokratie haben wollen. Und in gewisser Weise trägt diese Protestbewegung dann auch zum Selbstvertrauen der Türkei bei. (Markus Bernath, DER STANDARD, 10.6.2013)