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Walter Jens: Pazifist und Publizist.

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Tübingen - Walter Jens hat die "Orestie" des Aischylos wie die "Antigone" des Sophokles übersetzt und auch das Matthäus-Evangelium in eine zeitgemäße Sprache gebracht. Als Literaturkritiker, als Autor von Romanen, Essays, Hörspielen hatte sich Jens schon während der "aktiven" Zeit der Gruppe 47 einen Namen gemacht. Und als "Momos" hat er jahrelang in der "Zeit" die Fernsehkritik zum Blühen gebracht. So jemand wie der Hamburger Walter Jens (Jahrgang 1923) verstand es, Theologie, Literatur, Kulturgeschichte und Politik miteinander zu verbinden. Dazu die enorme Begabung zum öffentlichen Wort.

Aber seine inhaltsschweren Meinungsäußerungen zum Weltgeschehen konnte längst nicht jedermann nachvollziehen. Doch die meisten sahen in ihm wohl zuerst den Anwalt der Humanität, einen linksliberalen Intellektuellen, der über den guten Geist und seine Beheimatung in friedloser Umgebung zu wachen verstand. Und umso deutlicher ihm diese moralische Reputation zuwuchs, desto lauter meldete sich die Kritik zu Wort, als man auf seiner weißen Weste einen braunen Klecks auszumachen glaubte.

So einer wie Walter Jens konnte sich nicht an seinen Eintritt in die NSDAP erinnern? Oder wollte er es nicht? Flucht in die Demenz, die bei ihm tatsächlich ausgebrochen war? Walter Jens hat sich immer als Bekenner verstanden und die Nazi-Zeit nachträglich als Jahre der ausgebliebenen und fehlgeleiteten Konfession angesehen. Das alles wollte er nach dem Krieg besser machen. Aus dem Defizit des Widerstehens zur rechten Zeit musste auf diese Weise wohl ein Übermaß an Verspätung erwachsen - jener merkwürdig diffuse Zustand, in dem viele in Deutschland zu verharren scheinen.

Walter Jens war Pazifist. Für diese Gesinnung ist er rechtskräftig verurteilt worden, nachdem er vor den US-Depots in Muthlangen die Zufahrtsstraßen zu den Raketensilos mitblockiert hatte. In seinem Buch "Die Götter sind unsterblich" begrüßt Euripides an der Pforte des Hades einen Neuzugang: den Dichter Bertolt Brecht, der sich im Hades verantworten soll. Ein Richter rühmt bei der Gelegenheit Sokrates. Brecht repliziert: "Doch die Menschen wurden nicht besser, weder durch ihn noch durch die Komödienschreiber." Antwortet der Richter: "Aber wissend, und das ist viel mehr."

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hat Walter Jens als "unseren Redner der Republik" bezeichnet. Aber Jens war kein Schönredner, sondern jemand, der auf Kenntnis, auf Wissen setzte, ein in Wahrheit eben doch Vernunftgläubiger und ein Aufklärer. Walter Jens ist am Sonntag im Alter von 90 Jahren in Tübingen gestorben. (Wolf Scheller, DER STANDARD, 11.6.2013)