Im Gezi-Park, Taksim, herrschte ein Volksfest. Es waren hunderttausende Menschen auf dem Platz. Am Samstag gab es vorerst die Kundgebung der Feministinnen, danach der Berufsverbände von Architekten, Ärzten und Ingenieuren und anschließend trafen sich über zehntausende Fußballfans der drei Istanbuler Mannschaften. Im Gezi-Park teilen sich linke Gruppen, Kemalisten, Kurden, Feministinnen, queere Gruppen und muslimische Antikapitalisten den Platz. Eine aktuelle Studie besagt, dass mehr als die Hälfte der im Gezi-Park kampierenden Menschen sich nicht einer politischen Gruppe zugehörig fühlen bzw. früher politisch nicht organisiert waren.

Die Kritik an der AKP-Regierung scheint auf den ersten Blick der gemeinsame Nenner zu sein, der unterschiedliche Gruppen bei der Suche nach alternativen Partizipationsformen zusammenbringt.

Der Widerstand gegen die Umstrukturierung des Platzes geht auf zwei Jahre Arbeit der Taksim-Solidaritätsgruppe zurück, die über 50 Gruppen umfasst – Berufsverbände, Vereine und politische Gruppen. Sie wollen den Platz partizipatorisch gestalten. Erst nachdem die Besetzer des Gezi-Parks von der Polizei zusammengeschlagen worden waren, kam es zu Massenprotesten.

Warum konnten die Ereignisse im Gezi-Park so viele Menschen mobilisieren? Erstens steht der Gezi-Park für die Privatisierung des öffentlichen Raums. Nicht zuletzt steht hinter den hohen Wachstumsraten der türkischen Ökonomie die staatlich geförderte Bauwirtschaft. In großen Metropolen fand ein Gentrifizierungsprozess statt. Die Umgebung des Taksim-Platzes war in den letzten Jahren eine große Baustelle. Im Zentrum der Stadt wurden Shoppingmalls errichtet - Konsumtempel in einer kreditbasierten und stark verschuldeten Ökonomie. Darüber hinaus bleibt der Taksim-Platz für die Arbeiterbewegung und andere oppositionelle Bewegungen ein symbolischer Ort. Regierung und Stadtverwaltung haben jegliche Mitgestaltungswünsche und Kritik verworfen.

Zweitens steht die Reaktion der Regierung und der Polizei gegen die Besetzung für eine zunehmend autoritäre Politik. In den letzten Monaten wurden mehrere Demonstrationen durch die Polizei gewaltsam mit Tränengas beendet. Auch die Reaktion von Premier Erdogan löste große Wut aus. Viele Mittelklasseangehörige verstehen die Politik der AKP als zunehmende Einmischung in ihre private Lebenssphäre.

Informationsmonopol

Drittens war die Reaktion der Medien, die über die Ereignisse nicht berichtet haben, ein wichtiger Faktor. In den letzten Jahren kam es zur Monopolisierung der Medienlandschaft. Die Türkei gilt inzwischen als das Land mit den meisten JournalistInnen in Gefängnissen. Mehrere, die kritische Medienarbeit gemacht hatten, wurden entlassen. Als Paradebeispiel gilt der Sender NTV, der die Funktion einer kritisch-liberalen Öffentlichkeit nicht mehr erfüllen konnte.

Diese drei Punkte verdichteten sich in den Ereignissen im Gezi-Park und bildeten den Grund, war­um so viele Menschen auf den Straßen protestiert haben. Nun zeigen sich Taksim und Gezi-Park wie eine autonome Zone ohne Polizei, die wichtigsten Zufahrtsstraßen sind verbarrikadiert, und es herrscht auf diesem "besetzten" Platz Feststimmung. Die Menschen sind freundlich und solidarisch. Die Bewegung zeigt, dass ein gemeinsames Zusammenkommen trotz der Massenbeteiligung auch ohne Polizeipräsenz funktionieren kann.

Viele Gruppen mit politisch unterschiedlichen Positionen sitzen in Versammlungen zusammen. Hier eine offene Bibliothek, dort ein Kost-nix-Laden. Die feministische Bewegung ist stark sichtbar. Sexismus und Rassismus sind Themen, gegen die viele Gruppen Stellung nehmen. Die Solidarität zwischen den einzelnen Gruppen hält an. Die Geschäfte, die während der Straßenkämpfe ihre Türe den Protestierenden nicht geöffnet haben, werden boykottiert. Inzwischen hat der Gezi-Park ein eigenes Fernsehen und eine eigene Zeitung. Nicht zu vergessen der Gezi-Park-Humor und die -Satire, welche seitens der Demonstranten als ein wesentliches Instrument politischer Opposition eingesetzt werden.

Was hier passiert, ist auch als ein demokratisches Experiment zu beschreiben, das für Selbstbestimmung plädiert. Gleichzeitig platzen Tränengasbomben weiterhin in Ankara sowie in Gazi, in einem Stadtviertel, das nur 20 Kilometer weit weg von Taksim liegt. Auch hier kämpfen die Menschen für einen eigenen Raum und möchten Zelte errichten.

Es ist zu früh, um dieses Experiment für Teilhabe einzuschätzen, um sagen zu können, welche politischen Konsequenzen es haben wird. Die Unterschiede zwischen den Beteiligten sind groß. Die Regierung spricht die Sprache der Sicherheit und bedroht die Protestierenden. Viele Menschen auf dem Platz haben Angst, dass es zur Räumung kommen wird. Bemerkenswert an dieser Mobilisierung ist, wie aus der Wut eine neue Form des Widerstands und der Solidarität entstehen könnte. (Ilker Ataç, DER STANDARD, 11.6.2013)