Sehr geehrter Herr Botschafter William C. Eacho,

im Juli 2011 bekannte ich mich in einem persönlichen Gespräch mit Ihnen als Freund der Vereinigten Staaten von Amerika und als Unterstützer von Präsident Barack Obama. Als Freund schreibe ich Ihnen auch heute diesen offenen Brief. Sie erzählten mir in diesem Gespräch, dass Sie sich in jungen Jahren aktiv für Bürgerrechte engagierten. Aus diesem Grund erlaube ich mir, dieses Schreiben an Sie als Verfechter der Bürgerrechte und nicht ausschließlich an Sie in Ihrer Funktion als Botschafter zu richten. Natürlich nicht, ohne die historische Verantwortung, die wir Österreicher zu tragen haben und die daraus erwachsene Dankbarkeit gegenüber ihrer Nation in jeder Zeile zu bedenken.

Herr Botschafter, jede Zeit hat ihre besonderen Charakteristika. Die Gegenwart ist geprägt von der Digitalisierung unserer Gesellschaft. Immer mehr Alltagsaktivitäten hinterlassen eine Datenspur, die in Summe einen wesentlichen Teil der Identität des modernen Menschen bildet. Eine digitale Identität, die von immer ausgereifteren Computersystemen präzise dokumentiert, analysiert und deren Verhalten und Bedürfnisse zunehmend prognostiziert wird. Der Umgang von Unternehmen und Behörden mit dieser digitalen Identität erinnert an den Umgang mit einem Objekt.

Es wird gehandelt, verkauft und nicht zuletzt bis ins kleinste Detail überwacht und kontrolliert. Das Verständnis dafür, dass es sich bei persönlichen Daten nicht um ein Objekt handelt, sondern um einen Teil der menschlichen Identität, muss von uns zwingend erlernt werden. Wir müssen nicht zuletzt aus demokratiepolitischer Sicht einen humanistischen Umgang mit unserer digitalen Identität entwickeln.

In den vergangen Tagen wurde von Präsident Barack Obama das Programm "Prism" bestätigt. Es wird in den Medien berichtet, dass die National Security Agency und das Federal Bureau of Investigation direkten Zugang zu den Servern von global führenden Internetfirmen besitzen und damit weltweit zu persönlichen Daten der Bürger wie etwa E-Mails, Fotos, Videos, Textdokumenten oder Verbindungsprotokollen. Präsident Barack Obama bestätigte "Prism" ohne Reue, ohne eine Entschuldigung und ohne Ankündigung, das Programm unverzüglich einzustellen. Im Gegenteil, das Programm wurde trotz massiver öffentlicher Kritik verteidigt. Diese Reaktion ist bezeichnend für das weit verbreitete Fehlverhalten im Umgang mit unserer digitalen Identität.

Eine gute Freundschaft zeichnet sich dadurch aus, dass man sich gegenseitig offen, kritisch aber immer aufrichtig und ehrlich an seine Verpflichtungen erinnert und sich dabei unterstützt, diese Verpflichtung einzuhalten. In Anbetracht dessen muss ich Sie darauf hinweisen, dass der Umgang mit unseren persönlichen Daten von Seiten der amerikanischen Regierung in keiner Weise den moralischen Ansprüchen und Vorstellungen unserer Generation von Bürgern entspricht. Dieser Umgang bezieht sich nicht ausschließlich auf das Programm "Prism", sondern betrifft viele Fälle. Ich erinnere etwa an dem Umgang mit europäischen SWIFT-Bankdaten oder den PNR-Fluggastdaten.

Sollten die Medienberichte der Wahrheit entsprechen, stellt jedoch das Programm "Prism" rechtsstaatliche Prinzipien in Frage, es missachtet nicht zuletzt das Grund- und Menschenrecht auf Privatsphäre. Für das Funktionieren unseres demokratischen Systems ist Privatsphäre jedoch nicht bloß Luxus oder Option, sondern eine notwendige Bedingung. Jeder Mensch braucht Rückzugsorte, einen Raum, in dem er selbst sein darf und sich frei und ungestört entwickeln kann. An diesem Ort des Schutzes und der Geborgenheit entstehen Individualität, freie Meinung und Innovation. Dort wächst Mut zur Kritik und der Wille zur Eigeninitiative. Allesamt Voraussetzungen für das Funktionieren einer Demokratie. Das Zurückdrängen von Privatsphäre zugunsten der Omnipräsenz einer staatlichen Kontrolle ist kein Wesensmerkmal einer freien Demokratie.

An dieser Stelle darf ich Sie auch an die rechtshistorische Bedeutung der Amerikaner Samuel Warren und Luis D. Brandeis erinnern. In Zeiten des technischen Umbruches durch Fotografie und Tonaufzeichnung verfassten die beiden jungen Anwälte im Jahre 1890 ihren Aufsatz "The Right to Privacy". Darin plädieren sie für ein Persönlichkeitsrecht auf Privatheit, das Schutz gegenüber Eingriffen anderer Bürger bieten sollte.

Damals wie heute hat eine technologische Revolution das Spektrum an Möglichkeiten, was mit Informationen geschehen kann, stark erweitert. Der Aufsatz löste eine breite Diskussion aus, sodass es beim bloßen Schutz gegen Eingriffe anderer Privater nicht bleiben sollte. Denn ohne die durch Warren und Brandeis ausgelöste Debatte wäre es wohl nicht zu Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen gekommen. Dieser stellt die erste umfassende Schutznorm der Privatsphäre dar.

Privatsphäre besitzt somit auch einen rechtlichen Schutz gegenüber dem Staat. Staatliche Eingriffe in die Privatsphäre müssen gerechtfertigt sein. Doch worin genau liegt Ihre Berechtigung, tief in die Privatsphäre Ihrer friedlichen Freunde einzudringen? Denn gemessen an den Wertmaßstäben von Demokratie und Rechtsstaat, darf der Staat nicht legitimiert werden, die Freiheit des Individuums derart einzuschränken. Indem Sie jedoch sämtliche Bürger unter Generalverdacht stellen, ist genau dies der Fall.

Ein Staat, der Freiheit als einen der höchsten Werte definiert, gleichzeitig jedoch bei den Bürgern weltweit verdachtsunabhängig und ohne richterlichen Beschluss tief in die Privatsphäre eindringt, löst tiefe Widersprüche aus, die das Ansehen und die Legitimation des staatlichen Handelns fundamental erschüttern. Ich muss Ihnen an dieser Stelle sagen, dass die amerikanische Politik die demokratiepolitisch notwendige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit nicht mehr gewährt.

Herr Botschafter, eine Nation wie die Ihre muss natürlich kraftvoll, aber mindestens auch glaubwürdig und beispielhaft voranschreiten. Genau diese glaubwürdige Vorbildrolle der Vereinigten Staaten von Amerika kommt zunehmend abhanden. Nach dem Ende der Legislaturperiode von George W. Bush und mit der Wahl Barack Obamas, hatten viele die Hoffnung auf eine Trendwende der amerikanischen Politik. Diese Hoffnung wurde in vielen Bereichen nicht erfüllt. Damit der Respekt und die Glaubwürdigkeit Ihrer Nation nicht weiter schwindet, ersuche ich die amerikanische Regierung das Programm "Prism" umgehend einzustellen und eine Trendumkehr im Umgang mit unserer digitalen Identität einzuleiten.

Mit freundschaftlichen und demokratischen Grüßen,

Martin Ehrenhauser

Unabhängiges Mitglied des Europäischen Parlaments
(Martin Ehrenhauser, derStandard.at, 11.6.2013)