Instinktiv ist Edward Snowden nach Hongkong geflüchtet - eine gute Entscheidung, denn hier ist der frühere Mitarbeiter des US-Geheimdienstes NSA in einem sicheren Versteck. Die seit 1997 wieder zu China gehörende, sich aber mit einem eigenständigen Justizsystem selbstverwaltende, ehemalige britische Enklave hat besonders komplizierte Auslieferungsgesetze. Der Schutz, den das dortige Prinzip "Ein Land, aber zwei Systeme" Verfolgten bietet, kommt nun auch dem US-Behördenfeind Snowden zuteil.
Falls Washington seine Auslieferung verlangt, könnte Hongkongs Justiz das verwehren oder monatelang hinauszögern, berichtet die "South China Morning Post" ("SCMP"). Stärkster Ablehnungsgrund wäre, wenn Peking den 29-jährigen IT-Spezialisten, der Einblick in das interne Cyber-Ausspähsystem der USA hatte, in Hongkong behalten und selbst befragen möchte.
Ein 1998 zwischen Hongkong und den USA unterzeichnetes Abkommen zu Auslieferungen sieht in Paragraf 3 seiner Ausführungsbestimmungen ausdrücklich ein "Verweigerungsrecht" für Hongkong vor, wenn Peking interveniert. Voraussetzung ist, dass Chinas Behörden geltend machen, dass "die Überstellung einer Person Fragen der Verteidigung, Außenpolitik oder wichtiges öffentliches Interesse der Volksrepublik berühren".
Hongkongs Justiz kann aber auch ohne Veto Pekings Anträge der USA oder von Interpol auf Auslieferung ablehnen. Der Betroffene müsste in einer Petition nur überzeugend geltend machen, dass er wegen seiner politischen Meinung verfolgt wird oder Schikane und Folter befürchten muss. Der Passus schützt bisher chinesische Dissidenten und verfolgte Religionsanhänger vor einer Rückführung nach Peking.
Kaum Auslieferungen
Snowden müsste beim Flüchtlingshochkommissariat der Uno (UNHCR) den Status eines Flüchtlings beantragen - ein monatelanges Verfahren.
Ein Beschuldigter hat in Hongkong noch Appellationsrechte, selbst wenn Hongkongs Verwaltungschef seine Ausweisung verfügt. Die SCMP schreibt, dass seit 1998 nur 65 Flüchtlinge, vor allem wegen Wirtschaftsverbrechen, an die USA ausgeliefert wurden.
Da Chinas Behörden bis Mittwoch wegen nationaler Feiern zum Drachenboot-Fest geschlossen sind, gibt es keine offiziellen Stellungnahmen. Chinesische Politikwissenschafter glauben indes nicht, dass Chinas Regierung der Zugriff auf die Person Snowden und auf das, was er weiß, so viel wert ist, um auf Konfrontationskurs mit den USA zu gehen. Im Gegenteil: Peking feiere gerade propagandistisch in höchsten Tönen das Gipfeltreffen zwischen Staatspräsident Xi Jinping und Barack Obama in den USA als "neues Modell von Großmachtbeziehungen".
China sei "Partner der USA auf Augenhöhe", schrieben die Parteizeitungen. Pekings Führung würde sich auch ungern erinnern lassen, wie Washington sich 2012 heraushielt, als Chongqings Polizeichef und innerparteilicher Geheimnisträger Wang Lijun im US-Konsulat von Chengdu Zuflucht suchte. Nach Verhandlungen stellte er sich dann freiwillig den chinesischen Behörden.
Blogger machen Druck
Blogger versuchen dagegen Druck auf Peking aufzubauen. Im Internet preisen sie ihn als "Enthüller" und fordern die Staatsführung auf, den Mann zu schützen.
Besonders laut gebärden sich patriotische Stimmen. China, das vom Pentagon der orchestrierten Cyberspionage und Hackerangriffe beschuldigt werde, sollte die Gelegenheit zur Retourkutsche nutzen. Snowden sei ein Kronzeuge, wie die andere Seite an der Cyberfront operiert. Schließlich war er nach eigenen Angaben vier Jahre damit befasst, Internet-Dienste von Google bis Facebook abzuschöpfen. Sie hatten Zugriff auf E-Mails und Kreditkarten-Passwörter, legten Datensammlungen an und werteten sie aus. Nationalist Wang Xiaodong, der mit dem Buch "China kann Nein sagen" bekannt wurde, bloggte, Snowden sei ein "richtiger Kämpfer für die Menschenrechte". "Er ist auf chinesisches Gebiet geflohen. Wir müssen ihn schützen und dem Druck der USA widerstehen."
Der sich an unbekanntem Ort versteckende Snowden sagte der britischen Zeitung "Guardian", er hätte sich Hongkong als Fluchtort wegen seiner "starken Tradition der freien Sprache" und wegen des Schutzes von Dissens gewählt. Washington, dessen Justizministerium gegen Snowden ermittelt, hat noch nicht gesagt, ob es eine Auslieferung überhaupt beantragen will. (Johnny Erling, DER STANDARD, 12.6.2013)