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Der Einsatz des "Wii Balance Boards" wurden für das Training verloren gegangener Bewegungsabläufe von Sprunggelenk und Hüfte getestet.

Foto: Reuters/Mario Anzuoni

Barcelona – Erworbene Hirnschädigungen, die infolge von Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, Sauerstoffmangel oder gutartigem Hirntumor auftreten, beeinträchtigen Patienten im Alltag oft schwer: Lähmungen, Spasmen oder Gleichgewichtsstörungen können genauso resultieren wie Störungen der Sprache, des Verhaltens oder des Selbstbewusstseins. Die große Bandbreite möglicher Konsequenzen stellt für die Rehabilitation eine hohe Herausforderung dar.

"Schwierig ist unter anderem, dass Patienten oft die Motivation für die Therapie verlieren, außer man gibt ihnen eine konkrete Aufgabe und ständige positive Rückmeldung für die Anstrengung", erklären Experten beim 23. Meeting der Europäischen Neurologengesellschaft (ENS) in Barcelona.

Ein viel versprechender neuer Weg in der Neurorehabilitation ist der Einsatz virtueller Spiele, da diese eine virtuelle Umgebung liefern, die für eine bestmögliche Nutzung von Strategien der Neurorehabilitation entworfen wurden und auch für das Motivationsproblem eine Lösung bieten. "Therapeuten können einstellen, welche sensorische Rückmeldung erfolgt. Sie versorgen die Patienten mit speziell auf sie abgestimmten, Aufgaben-orientierten Übungen in abwechslungsreicher Spielumgebung, was durchaus auch Spaß machen darf", so Enrique Noé, Neurologe und Leiter der Neurorehabilitation im NISA Spital in Valencia.

Therapeuten bleiben "wichtigster Teil des Systems": Sie erheben die genauen Bedürfnisse der Patienten, wählen auf dieser Basis die Übungen aus oder entwerfen diese sogar selbst neu, überprüfen die Fortschritte und sorgen für Nachjustierung, um optimale Ergebnisse zu erzielen.

Gleichgewichtsstörungen behandeln

Roberto Lloréns Rodríguez, von der Polytechnische Universität in Valencia und Noé überprüften Möglichkeiten des Einsatzes virtueller Realität bei Patienten mit erworbener Hirnverletzung, und zwar sowohl für motorische als auch kognitive und psychosoziale Therapien. In einer ersten Studienreihe testeten die Forscher den Einsatz des "Wii Balance Boards" von Nintendo für das Training verloren gegangener Bewegungsabläufe von Sprunggelenk und Hüfte. Sie zeigten, dass sich das Spielgerät auch für die Behandlung von Gleichgewichtsstörungen infolge von Hirnverletzungen eignet. Eine randomisierte Kontrollstudie, bei der 18 Teilnehmer je 20 einstündige Lektionen erhielten, zeigte mögliche klinischer Vorteile einer Kombination virtueller und konventioneller Übungen gegenüber herkömmlichen physiotherapeutischen Programmen. Diese Vorteile halten langfristig an, ergab eine Folgestudie.

Gleichgewichtsstrategien wurden auch in einer weiteren Testreihe erprobt, diesmal mit dem Microsoft-System "Kinect", mit dessen Hilfe die Bewegungen der Gelenke aufgezeichnet wurden. 20 Patienten mit erworbener Hirnverletzung wurden per Zufallsgenerator entweder einer Gruppe zugeteilt, die vier Wochen lang die herkömmliche Physiotherapie erhielt, oder einer zweiten Gruppe, die zusätzlich virtuelles Training durchlief. Auch hier zeigten detaillierte Messungen, dass eine Kombination der üblichen Therapie mit zusätzlichen virtuellen Maßnahmen zu schnelleren Fortschritten führt.

Es gibt mehrere Erklärungen dafür, warum virtuelle Realität den motorischen Lernerfolg verbessern kann. Die spanischen Forscher hoben hervor, dass durch die Technologie vor allem ein intensives, sich wiederholendes, angepasstes und Aufgaben-orientiertes Training mit ständiger Rückmeldung möglich ist. Als vorteilhaft sahen sie zudem, dass die Patienten im Rehabilitationsprozess durch Sinnesreize angesprochen werden, während sie die Übungsbewegungen ausführen.

Hürde Selbstbewusstsein

In einer dritten Testreihe werteten Lloréns und Noé Einsatzformen virtueller Spiele bei Störungen des Selbstbewusstseins aus, die als mögliche Folgen einer Hirnverletzung oft eine große Hürde für den Rehabilitationsfortschritt und die soziale Integration darstellen. Zum Einsatz kam ein 42-Zoll-Touchscreen, der die Oberfläche eines gewöhnlichen Tisches bildete. Bei dem speziell für Patienten programmierten Spiel mussten die Teilnehmer um die Wette Wissensfragen zum Thema Körper und Krankheit beantworten, in Problemszenarien vernünftig reagieren, ihre Handlungskompetenz in Rollenspielen unter Beweis stellen oder Zusammenhänge in Witzen und Redewendungen begreifen.

Eine Gruppe von 15 Patienten mit erworbener Hirnverletzung nahm an diesem Versuch teil und spielte über einen Zeitraum von acht Monaten wöchentlich das einstündige Spiel. Wie sich zeigte, konnten nach acht Monaten alle Teilnehmereigene Defizite richtig einschätzen – vier von ihnen war das zuvor nicht gelungen. Statt anfangs sieben Patienten hatten abschließend nur noch zwei von ihnen Probleme damit, eigene körperliche Beeinträchtigungen wahrzunehmen, und auch Mängel der Sozialkompetenz verschwanden bei vier von sechs Betroffenen. Kaum besserte sich allerdings die Fähigkeit, realistisch zu planen: Bei fünf von sieben blieb dieses Defizit bestehen.

"Spiele der virtuellen Realität werden künftig einen Fixplatz in vielen Gebieten der Rehabilitation einnehmen. Immer mehr Studien beweisen ihre klinischen Vorteile", betonte Lloréns. Technisch würden die dafür benötigten Systeme laufend besser, der Zugang zu ihnen – also die Integration in die Therapie – stelle noch eine Hürde dar, die besonders durch weitere Kostensenkungen und Erhöhungen der Robustheit überwunden werden könnte. Ideal wäre, so der Wunsch des Experten, „wenn die Forschung künftig noch die Lücke zwischen den Übungsleistungen und ihrem Transfer in das Alltagsleben schließt." (red, derStandard.at, 12.6.2013)