Sarah Spiekermann

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Überall wo ich grade unterwegs bin erzählen mir die Leute von ihren Start-up-Ideen und -Plänen. Ich komme mir vor wie in den späten 90ern, als wir alle im New-Economy-Fieber waren. Von Neuem fördern die Städte ihre "Incubators" (zu Deutsch: Gründerzentren) und stellen großzügig Mittel zur Verfügung, um das junge Unternehmertum zu finanzieren. Events wie Wiens Pioneers Festival sprießen überall in Europa wie Pilze aus dem Boden. Und die coolsten Leute scheinen sich derzeit nicht mehr um die Posten in Unternehmensberatungen und Investmentbanken zu schlagen (wen wundert das ...?), sondern basteln an ihrer Unabhängigkeit. Aber was ist anders im Vergleich zu 2000?

End-User Programming

Letzte Woche kam Christian Eder von Weavly.com nach Wien, um mit mir und meiner Internet-Economics-Klasse an der WU über sein Geschäftsmodell zu diskutieren. Seine ersten Worte waren: "Das Geschäftsmodell Werbung ist tot." Mit dieser Aussage schließt er schon mal vorab den größten Fehler aus, den damals in 2000 alle gemacht haben, die glaubten, dass das Gold in den Werbeumsätzen zu finden sei. Weavly ermöglicht es Leuten auf einfachste Art und Weise - Plug-and-play - Youtube-Videos zu remixen, zu schneiden und mit Soundstracks zu untermalen. Die Leute lieben das. Und warum sollen sie dann nicht ein paar Cents dafür bezahlen, sich das Video hinterher runterzuladen und als eigene Kreation zu brennen, zu verschenken etc.? Warum sollten große Firmen ihre Promotionvideos nicht kostenlos für solche kreativen Weiterentwicklungen zur Verfügung stellen und sogar zahlen, wenn Teile ihrer Inhalte dann durch Weavlys Community viral gehen?

Weavly ist ein gutes Beispiel für eine ganze Gattung von Ventures, die sich rund um das Thema "End-User Programming" drehen und die ein kreatives Remix von dem anbieten, was im Netz an Inhalten und Apps zu finden ist. Mit "End-user Programming" sind alle Arten von Plug-and-play-Lösungen gemeint, die Leuten helfen, online kreativ zu sein, ohne programmieren können zu müssen.

Smartphone-Apps

Die zweite Ideenwelt, die gerade boomt, sind Smartphone-Apps. Während Unwired Planet Ende der 90er Jahre über eine Milliarde US-Dollar an der Börse für ein nicht vorhandenes mobiles Internet einkassierte, weil es einfach keine Handsets gab, keine Bandbreiten, keine Datentarife und keine Inhalte, haben es die Gründer von heute deutlich besser. Zwar fallen einige Apps Gründer auch heute wieder auf die Mär rein, dass die Werbung den Dienst finanzieren werde. Aber immerhin nicht alle. Viele Leute haben sich schon daran gewöhnt, ein paar Euro zu zahlen für die Sachen, die sie wirklich auf ihrem Handy haben möchten.

Life Logging

Der dritte Trend, den ich interessant finde, sind die Life-Logging-Anwendungen: Da beobachten die Leute mit einer unwahrscheinlichen Akribie ihre eigenen täglichen Aktivitäten: Wo sie waren, wie viele Schritte sie gegangen sind, welche Gefühle sie hatten, wie viel sie geschwitzt haben, wo die Freunde sind, ihre Kinder, etc. Die Menschen haben einen schier unglaublichen Wunsch danach, sich selbst zu verstehen. Und unsere Smartphones gepaart mit Sensoren und Machine-Learning-Algorithmen können diesen Hunger nach Selbsterkenntnis immer besser bedienen.

Die einzige Frage ist, wo die persönlichen Daten gesammelt, aggregiert und interpretiert werden, die durch diese Services entstehen. Ein neu gegründetes Silicon-Valley-Venture kam die Tage zu mir an die WU mit der Idee, diese persönlichen Daten auf ihren gut gesicherten US-Servern unterzubringen. Werbetreibende könnten dann viel gezielter mit diesem Wissen Werbungen an die Mobiltelefone der Nutzer versenden. Auch ohne PRISM bereits beim Namen nennen zu können, war ich nicht sonderlich begeistert ...

Es gibt aber eine Vielzahl spannender Neugründungen, die an dieses Thema anders ran gehen und Privacy-freundliche "Identitätsmanagementlösungen" anbieten; wie etwa connect.me oder Qiy. Die Idee ist hier, dass die persönlichen Daten im eigenen Kontrollbereich bleiben und interpretiert werden. Doc Searls baut die Idee in seinem neuen Tech-Bestsellers "The Intention Economy" weiter aus. Er geht davon aus (wie ich auch), dass wir alle irgendwann unsere persönlichen Softwareagenten haben, die uns einerseits die Werbung vom Hals halten und andererseits gezielt für uns im Netz die Dinge suchen und Preise nachfragen, die uns gerade interessieren. Dieses Modell bedeutet allerdings eine effektive Abkehr vom klassischen Einzelhandel und von klassischen Werbemodellen sowieso.

Social Entrepreneurship

Der vierte Trend den ich letztlich sehe, sind all die "Social Entrepreneurship"-Aktivitäten. Es scheint als hätten wir einen Punkt in der Gesellschaft erreicht, an dem wir wirklich anfangen, viele traditionelle Geschäftsmodelle und -ideen fundamental in Frage zu stellen. Und als Folge dieser Umbesinnung fangen auch Gründer ernsthaft an darüber nachzudenken, Dinge nicht nur anders zu tun, sondern auch andere Dinge zu tun: So kommen sie zum Beispiel auf die Idee, aus alten Feuerwehrschläuchen schmucke Handtaschen zu fertigen, wasserlose Toiletten in Entwicklungsländer zu verkaufen, Bildschirmansagen für Sehbehinderte einzubinden etc. Manche Länder haben sogar nationale Fonds aufgelegt, die nur diese Form von Unternehmen unterstützen, wie etwa UnLtD in Großbritannien.

Wenn ich all diese Trends der New Economy 2.0 zusammen nehme, dann scheint mir eins klar: es geht darum, den Menschen zu stärken - "empowering people". Und das ist mehr als Web 2.0, was den User einbindet. Letzteres ist nur die Voraussetzung für das, was jetzt darüber hinaus passiert.

Zu guter Letzt möchte ich noch eine Beobachtung festhalten: Es haben sich nicht nur die Ideen, Geschäftsmodelle und Technologien seit 2000 geändert. Es sind auch die Menschen, die diese zum fliegen bringen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, um 2000 herum überall diesem medial aufgebauschten "Kids Business" lauschen zu müssen. Jetzt habe ich hingegen den Eindruck, dass die Mischung besser ist. Die Jungen mit all ihren guten Ideen, Stärken und ihrem Enthusiasmus werden unterstützt von vielen erfahrenen Managern, die sich ihrerseits aus der desolaten Unternehmenswelt verabschiedet haben und die nun ihr Wissen und ihre Erfahrungen in die neuen Ideen einfließen lassen. Das ist ein machtvoller Trend. Er verspricht die New Economy 2.0 zu einer Erfolgsgeschichte für Europa werden zu lassen. (Sarah Spiekermann, derStandard.at, 12.6.2013)