Gerald Steinacher
Hakenkreuz und Rotes Kreuz
Eine humanitäre Organisation zwischen Holocaust und Flüchtlingsproblematik
Studienverlag 2013
212 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Coverfoto: Studienverlag

Wien - Das Schweigen des Roten Kreuzes zu den Gräueln des Holocaust bezeichnete das britische Magazin "Economist" einmal als den beschämendsten Augenblick in der Geschichte der Hilfsorganisation. Obwohl man bereits früh von den Massenmorden gewusst habe und von den Opfern um Hilfe gebeten worden sei, unterblieb eine Reaktion.

Stattdessen habe sich das Rote Kreuz eher in der Organisation von Fluchtmöglichkeiten für bekannte Nationalsozialisten wie Adolf Eichmann oder Josef Mengele hervorgetan. In seinem soeben erschienenen Buch "Hakenkreuz und Rotes Kreuz" (Studienverlag) geht der österreichische Zeithistoriker Gerald Steinacher der Haltung der Hilfsorganisation zum Nazi-Regime, den Hintergründen für das Schweigen und dem Kontext der "Nazi-Fluchthilfe" nach.

"Ein ganz anderes Verständnis von Schuld und Verantwortlichkeit"

2007 tauchte in Buenos Aires das Reisedokument von Adolf Eichmann auf, zentral mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Juden: Es war ein vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ausgestelltes Papier. Eichmann war nicht der einzige prominente Nazi, dem das IKRK nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Flucht erleichterte. Warum das geschah, ist für Steinacher keine einfach zu beantwortende Frage. "Der Hauptgrund war meines Erachtens letztlich ein ganz anderes Verständnis von Schuld und Verantwortlichkeit. Viele im IKRK sahen die Deutschen in erster Linie als Opfer des Krieges und nicht als Tätervolk", so Steinacher.

Die anfängliche Politik der Alliierten von Gericht und Sühne, von Nürnberg und Denazifizierung sei vom IKRK abgelehnt und unterlaufen worden. Als eigentlich Schuldige seien dagegen nur die besonders prominenten Nationalsozialisten wie Hitler, Himmler und Goebbels identifiziert worden. Sie alle waren zu diesem Zeitpunkt bereits tot.

"Die damalige Vorstellung der US-Amerikaner, dass auch kleine Räder im System wenn nicht legale so zumindest moralische Mitverantwortung für die Verbrechen eines Regimes tragen, wurde anscheinend mit Unverständnis zur Kenntnis genommen", erklärt der an der Universität von Nebraska (USA) lehrende Historiker. Die Zahl der ehemaligen Nazis, Kollaborateure und SS-Angehörigen, die mit Hilfe des Roten Kreuzes fliehen konnten, schätzt er "in die Zehntausenden gehend".

Einfluss der Schweizer Regierung

Das habe dem Ansehen des Roten Kreuzes ebenso geschadet wie das Schweigen zur Ermordung von Millionen Juden, so Steinacher. Dieses Schweigen lasse sich aus den gegebenen Umständen erklären: Waren dem in der Schweiz ansässigen Roten Kreuz zunächst noch die Hände auch durch die Genfer Konvention gebunden - KZ-Insassen galten nicht als Kriegsgefangene - habe man sich dann vor allem den Wünschen der Schweizer Regierung gebeugt, die Nazi-Deutschland im Jahr 1942 als große Bedrohung einstufte.

"Die Mehrzahl im Komitee war für einen Appell, gerade die Frauen haben sich dafür ausgesprochen. Aber die Führungsriege um Carl Jacob Burckhardt gab den Wünschen der Schweizer Regierung nach. Damit hat das IKRK seine Neutralität und Unabhängigkeit gegenüber Bern aufgegeben", meinte der Zeithistoriker. Daneben habe es noch eine Reihe von anderen praktischen Überlegungen, wie die Priorität der Kriegsgefangenenfürsorge gegeben, wo "das IKRK ja Großartiges geleistet hat. Das muss man auch klar sagen."

Als sich das Blatt zu wenden begann und die USA ihr Missfallen über die fehlende Hilfe des IKRK für die verfolgten Juden ausdrückte, habe man in letzter Minute aus politischem Interesse heraus versucht, Versäumnisse wieder gut zu machen. Die Reisedokumente für Eichmann oder Mengele könnten dieser überstürzten Hilfsaktion für Zivilisten entsprungen sein. IKRK-Vorsitzender und Antikommunist Burckhardt wollte zudem Deutschen die Flucht aus dem sowjetischen Herrschaftsbereich ermöglichen. "Man muss das Schweigen zum Holocaust und die Fluchthilfe für hochrangige Nationalsozialisten daher auch im Zusammenhang sehen", ist Steinacher überzeugt.

"Keine Anklage, sondern ein Versuch, zu verstehen"

Die Forschung sei auch noch keineswegs abgeschlossen, betonte er. "Bis 1989 hat das Klima des Kalten Krieges vieles unter Verschluss gehalten, Fragen wurden nicht gestellt und die Archive waren nicht zugänglich. Historiker brauchen aber Quellen", erklärt Steinacher warum die Aufarbeitung der Geschichte des Roten Kreuzes erst spät und nach und nach passierte.

Der Kalte Krieg habe sowohl Forschungen verhindert, aber auch den entstandenen Imageschaden für das IKRK und die existenzielle Krise der Organisation deutlich gemildert. "Das vorliegende Buch ist keine Anklage, sondern ein Versuch, zu verstehen", schreibt Steinacher in seiner Einleitung. Heute setze das Komitee weitaus mehr auf Öffentlichkeitsarbeit und Transparenz, er sei vom IKRK bereits zu Vorträgen und Diskussionen eingeladen gewesen. (APA/red, derStandard.at, 13.6.2013)