"Fifty Shades of Grey, nur ohne Sex", titelte jüngst der "Economist" zur Krise des Euroraums. Nein, Europa bekommt keine guten Noten für seine aktuelle Politik, und auch Stephan Schulmeister sieht in seinem Kommentar vom 28. Mai die "Krisen-Navigatoren auf Untergangskurs". Zwei Dinge fallen an diesem Beitrag auf. Zum einen fehlen in der Analyse die ökologischen Aspekte der aktuellen Krise. Zum anderen beklagt Schulmeister, dass die "systemische" Grundbotschaft des Meisters in der Wirtschaftswissenschaft nie akzeptiert worden sei und fordert, den ganzen Keynes zur Kenntnis zu nehmen - da erstaunt es, dass Schulmeister selbst nur eine (zentrale) Facette von dessen Denken für seine Kritik in Anschlag bringt. Es gibt nämlich noch einen anderen Keynes.

Man könnte meinen, dass es für den derzeitigen Schlamassel relativ wurscht ist, ob ein verblichener Ökonom nun vollständig rezipiert wird oder nicht. Man könnte aber auch denken, dass die Wirtschaftswissenschaft eine "nützliche Vergangenheit" (George Stigler) hat und wir von dieser Geschichte etwas lernen können. Und: "Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen."

John Maynard Keynes selbst hat das gesagt, und er hatte recht: Politisches Handeln wird wesentlich durch ökonomisches Denken geprägt. Nicht nur Stephan Schulmeister findet, dass der "Neoliberalismus" à la Hayek und Friedman unsere Welt prägt. Noch in den 1970er-Jahren befand US-Präsident Richard Nixon, dass es nur noch Keynesianer gäbe. Und dass das Denken von Karl Marx - genauer: eine grausame Verwurschtung seiner Ideen - die jüngere Weltgeschichte wesentlich geprägt hat, ist bekannt. Nichts spricht dafür, dass es dem "Neoliberalismus" anders ergehen wird als dem Keynesianismus und dem Marxismus - irgendwann wird auch dieser Ismus an Einfluss verlieren.

Will man das beschleunigen, sollte man sich auf die Suche nach Alternativen machen. Stephan Schulmeister ist in diesem Sinne bekanntlich überaus aktiv. Dabei nur den Wachstumsökonomen Keynes zu zitieren, ist freilich zu wenig. Schon die aktuelle Krise ausschließlich ökonomisch zu fassen, ist eine gefährliche Verengung. Wer sich in der Welt - oder in diesen Tagen auch nur an der Donau - umschaut, sieht die Vieldimensionalität der derzeitigen Problemlage: Es geht um wirtschaftliche, ganz wesentlich aber auch um ökologische und soziale Fragen. Alle Welt bekennt sich zur "Nachhaltigkeit", aber die ökologische Dimension erscheint seltsam fern. Oft wird der Eindruck erweckt, wirtschaftliche Herausforderungen seien hier und heute zu lösen, während die Umweltkrise noch warten könne. Die Hochwassermeldungen der letzten Wochen sind ein Indiz dafür, dass dies eine fatale Verkürzung der Fakten ist.

Wer eine nachhaltige Entwicklung will, muss über ökologische Wachstumsgrenzen nachdenken. Technik allein wird uns nicht retten, und das wirft Fragen nach der Zukunftsfähigkeit des Wachstumsparadigmas auf. Ökologie war für Keynes kein Thema. Und doch haben seine Langfristbetrachtungen uns etwas Wichtiges zu sagen, wenn es um die Nachhaltigkeit von Entwicklung geht. Keynes wird oft auf den Spruch reduziert, dass wir langfristig alle tot sind. Er hat sich dennoch dezidiert mit Zukunftsfragen auseinandergesetzt. Sein Aufsatz "Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder" erschien 1930. Mitten in der Weltwirtschaftskrise prognostiziert der Brite ein Ende des ökonomischen Problems, der Knappheit. Keynes malt sich eine Wirtschaft aus, die kein Wachstum mehr braucht.

Die Lösung eines zentralen Problems der Menschheit habe, so prognostiziert er, tiefgreifende kulturelle Folgen: Einerseits könne man dann Ziele wichtiger nehmen als Mittel und das Gute dem Nützlichen vorziehen. Andererseits drohe ein "kollektiver Nervenzusammenbruch", wenn das Ende der Knappheit zur Frage führe, was die Menschen denn mit der neu gewonnenen Freiheit anfangen sollten. Keynes lehrt uns in dieser und in anderen Schriften: Wirtschaft hat einen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, den man nicht außer Acht lassen darf, wenn es um Zukunftsfragen geht. Und: Wachstum ist, historisch gesehen, eben nicht die "Normalität", als die es uns heute erscheint.

Man kann Keynes' Text in eine Reihe stellen mit John Stuart Mills berühmtem Kapitel über den "stationären Zustand" oder Schumpeters Meisterwerk "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie". Hier wie dort gilt: Die kritiklose Rezeption kluger Schriften führt zu nichts Gutem. Unkritische Wachstumskritik, die sich hier etwas Mill und dort etwas Keynes einverleibt, um emotional ansprechend und intellektuell anspruchslos eine bessere Zukunft zu fordern, hilft uns nicht weiter.

Es wäre absurd, Arbeitslosen im europäischen Süden oder Hungernden im globalen Süden mit Verweis auf die Umwelt erklären zu wollen, dass ihre Probleme in einer "Postwachstumsgesellschaft" leider unlösbar sind. Es wäre freilich ebenso absurd zu glauben, dass Wirtschaftswachstum in einer endlichen Welt auf Dauer gesellschaftliche Probleme zu lösen vermag. Der "Untergangskurs" kann nur korrigiert werden, wenn die Navigation nicht lediglich Wachstumsschwächen sieht, sondern auch die Relevanz von Umwelt- und Verteilungsfragen zur Kenntnis nimmt. Keynes kann dabei helfen - aber eben nur dann, wenn er nicht lediglich als Makroökonom gesehen wird, sondern auch als ein inspirierender Autor sozialphilosophischer Texte, die über den Tellerrand des Ökonomischen hinausweisen. (Fred Luks, DER STANDARD, 14.6.2013)