Franz Hohler, Schriftsteller, Liedermacher und Kabarettist, ist 1943 in Biel geboren. "Der Geisterfahrer" erschien 2013 bei Luchterhand.

cover: luchterhand

STANDARD: Herr Hohler, eine Ihrer Geschichten heißt "Die Raucherecke" und erzählt von einem Hotelgast, der eigentlich nur eine Zigarette rauchen will und in der Folge dieses misslingenden Bemühens vor den Scherben seiner Karriere als Musiker steht. Sie sind eben angekommen - haben Sie denn die Raucherecke schon gefunden?

Hohler: Nein, ich rauche ja nicht und bin eigentlich auch ganz froh darüber, dass in Restaurants nicht mehr geraucht werden darf, aber das Ganze hat mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das die Raucher zu Aussätzigen macht. Wenn ich in der Pause im Theater vor die Tür gehe, dann stehen dort häufig die interessanteren Leute. Allein der Geruch einer Zigarette, den ich eigentlich sehr mag, ist inzwischen so selten geworden, dass man den fast schon wie eine Delikatesse einatmet.

STANDARD: Selten sind auch Ihre kabarettistischen Leckerbissen geworden, mit denen Sie das kulturelle Leben der Schweiz jahrzehntelang entscheidend mitgeprägt haben. Warum dieser Rückzug von der Bühne?

Hohler: Das hat einfach mit einer gewissen Sättigung zu tun. Ich habe das sehr lang und mit aller Leidenschaft gemacht, aber es ist eben nur ein Teil meiner Arbeit. Das Schreiben war für mich immer genauso wichtig. Aber der mündliche Vortrag macht mir immer noch große Freude, ich bin ein Schriftsteller, der sehr gern vor Publikum liest.

STANDARD: Zu Ihrem 70. Geburtstag, den Sie unlängst gefeiert haben, ist " Der Geisterfahrer", ein Sammelband mit allen Ihren längeren Erzählungen, erschienen. In der titelgebenden Geschichte kommt es zu mysteriösen Unfällen auf einem schnurgeraden Autobahnabschnitt. Am Ende zeigt sich, dass ein längst verstorbener Bauer die Rückversetzung eines Grenzsteins einfordert. Um Unbeglichenes geht es auch in "Die Rechnung"; dort ist der nächtliche Wiedergänger kein Bauer, sondern ein Schneider, aber leitmotivisch funktioniert die Geschichte ähnlich. Gibt es da ein besonderes Interesse?

Hohler: Ja, diese alten Schulden sind schon etwas, das mich immer wieder beschäftigt. Mein Lied Das Restaurant erzählt von einem Lokal, in dem man hervorragend speist und am Ende für Sachen zahlen muss, die man gar nicht bestellt hat. Und das hat ja unglaublich viel mit der Realität zu tun, reicht vom ungelösten Problem der Endlagerung atomarer Brennstoffe bis zu den Zerfallskriegen in Ex-Jugoslawien.

STANDARD: Meint der Satz aus dem "Geisterfahrer", "Und wenn es auch nicht wahr ist, so ist es doch wirklich", diese Realität?

Hohler: Wirklichkeit ist ja das, was wirkt. Ich gehe immer davon aus, dass meine Geschichten sich genau so zugetragen haben, wie ich sie erzähle. Dass sie manchmal ins Groteske kippen, macht sie nicht weniger wirklich; das ist mehr als ein poetisches Verfahren, es ist die Wirklichkeit, wie sie sich mir darstellt oder mir begegnet.

STANDARD: Haben Sie sich mit dieser unorthodoxen Wahrnehmung noch nie Schwierigkeiten eingehandelt?

Hohler: Nicht deswegen. Ich bin alltagstauglich, kann mich so benehmen, wie es unter Menschen erwartet wird; aber oft geht es ja darum, eine Geschichte als solche zu erkennen, das kann ein vermeintlich alltägliches Erlebnis sein, das dann zum Ausgangspunkt für eine Geschichte wird oder zumindest werden kann.

STANDARD: Schreiben Sie das dann gleich auf?

Hohler: Nein, wenn die Idee stark genug ist, dann kommt sie ohnehin ganz von selbst wieder.

STANDARD: Und wie häufig widerfährt Ihnen so ein bemerkenswertes Erlebnis?

Hohler: Ständig. Ich bin eben mit dem Zug aus München gekommen, und bei Amstetten kam die Durchsage, der Zug bliebe hier stehen, die Strecke sei behördlich gesperrt, die Türen würden geöffnet, man könne aussteigen und man werde zur gegebenen Zeit zur Weiterfahrt aufgerufen. Vom ebenfalls ausgestiegenen Lokomotivführer habe ich dann erfahren, dass ein Suizid die Ursache sei. Da hat sich also meine Geschichte mit der eines verzweifelten Menschen gekreuzt, der für eine Stunde den internationalen Zugverkehr lahmgelegt und nicht nur sein eigenes Leben ausgelöscht hat, was schrecklich genug ist, vor allem auch für den Zugführer; er hat überdies auch die Zeit angehalten, und zwar in beide Richtungen. Das hat mich bewegt.

STANDARD: Sie sind einer der ganz wenigen Gegenwartsautoren deutscher Sprache, denen es gelingt, auch den tragischsten Geschichten etwas Humorvolles abzutrotzen. Wie wichtig ist Humor für Sie?

Hohler: Ich glaube, Humor hat ganz viel mit Distanz zu tun, mit der Möglichkeit, einen Schritt zurückzutreten, sich selbst nicht ganz so ernst zu nehmen. Ich habe schon als junger Mensch gern die Sachen von Morgenstern oder Ringelnatz und all den Poeten gelesen, die die Fähigkeit haben, das Ernste leicht zu sagen. Ich bin nicht im Geringsten am Oberflächenhumor interessiert, ich mag es jedoch sehr, wenn etwas leichtfüßig daherkommt, man aber beim Lesen das Gefühl hat, als laufe da ständig der Schatten mit, der Schatten unserer Welt. Aber natürlich ist das immer ein heikler Tanz, wenn man sich an dieser Grenze bewegt.

STANDARD: In Ihrer Vita schreiben Sie, dass Sie in Biel geboren wurden, was sich später in juristischer Hinsicht als falsch erwiesen habe: "Aber als ich dies merkte, war ich schon auf einer literarischen Schweizerkarte mit einem ganz kleinen Passfoto neben Robert Walser abgebildet / und dachte dann / diesen Platz geb ich nicht mehr her." Wie stark ist Ihre Affinität zu Walser?

Hohler: Robert Walser ist nach wie vor einer meiner ganz großen Lieblinge. Bei ihm gibt es eine unglaubliche Unbedingtheit, mit der er seiner Fantasie nachgeht. Im Übrigen war er ein großer Spaziergänger, das verbindet mich auch ein bisschen mit ihm. Seine Spaziergänge beschreiben ja im Grunde dauernd Innenwelten, aber eben mit einer Distanz zu dem, was er erlebt. Niemand würde sagen, Walser sei ein Humorist, aber er ist ein Poet, über dessen Verspieltheit ich beim Lesen seiner Texte häufig lachen muss. Die Art, wie er sich selbst aus der Welt herausnimmt und sich gerade dadurch wieder in sie einbringt - das sind Vorgänge, die die herkömmliche Art der Wahrnehmung sabotieren, und das hat ja dann auch sehr viel mit Humor zu tun.

STANDARD: Und Kafka spaziert dann bei Ihren Gängen mit Walser mit?

Hohler: Kafka ist mit Sicherheit einer der ganz Großen, und ich staune immer wieder darüber, wie unglaublich aktuell seine Geschichten wirken. Pardon hat einmal ein paar Seiten von Musils Mann ohne Eigenschaften als vorgebliches Manuskript an einige Verlage geschickt, und alle Verlage, inklusive des Rowohlt-Verlags, also Musils Hausverlag, haben das Manuskript abgelehnt. Ich habe nichts gegen Musil, ich gehöre sogar zu denen, die den Mann ohne Eigenschaften vollständig gelesen haben, aber ich glaube, das könnte mit einem Kafka-Text nicht passieren; die wirken, als ob sie gestern geschrieben worden wären, außer dass keine Computer drin vorkommen. Die Kraft dieser Bilder ist ungebrochen, auch das Groteske und eben der Humor. Ich finde Kafka wahnsinnig lustig.

STANDARD: Nicht immer lustig geht es in Ihren Geschichten für Kinder zu. Da werden Frauen wegen "einer falschen Bemerkung" geköpft und "sind erledigt", im Geflügelschlachthof kommt eine verzauberte Prinzessin als Schlachthuhn auf dem Tötungsfließband daher. Kann man Kindern diese Realitäten zumuten?

Hohler: Da bin ich sehr dafür, auch wenn ich von pädagogischer Seite schon kritisiert worden bin. Meist können Kinder mit den Realitäten viel unbefangener umgehen als die Erwachsenen.

STANDARD: Sie haben als Kulturnomade die halbe Welt bereist, kamen aber stets wieder in die Schweiz zurück, haben sich oft eingemischt, auch in Politisches. Gibt es da neben dem kritischen Blick auch eine ganz große Liebe?

Hohler: Aber natürlich, das eine setzt das andere voraus. Ich bin national aufgewachsen und lebe heute global, aber an meiner Verbundenheit zur Schweiz hat sich dadurch nichts verändert.

STANDARD: Was lieben Sie an der Schweiz besonders?

Hohler (Pause, denkt nach): Ich bin ein großer Liebhaber der Landschaft, inklusive der hässlichen Landschaft, und da braucht man in der Schweiz in beide Richtungen nicht weit gehen. Und ich mag die Berge, sehr sogar - auch wenn das nach Klischee klingt, ist es trotzdem wahr. Von Zürich aus auf das Jungfraujoch braucht es nur ein paar Stunden, und wenn Sie dann zum Aletschgletscher hinuntergehen, dann stehen Sie plötzlich in der Antarktis und warten auf den nächsten Pinguin. (Josef Bichler, Album, DER STANDARD, 15./16.6.2013)