
"Demokratische Politik muss signalisieren: Du bist erwachsen. Du kannst das ertragen. Du stirbst nicht sofort, wenn du den Nachbarn Klavier üben hörst", sagt Robert Pfaller.
STANDARD: Nach dem Appell "Empört euch!" des französischen Diplomaten und ehemaligen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel, der die Empörung letztlich auch nur einen oder zwei Sommer am Köcheln hielt, folgt nun die Vetodrohung der Regierten gegen die Regierenden. Sie sind Mitinitiator der Plattform "Mein Veto - Bürger gegen Bevormundung". Von wem fühlen Sie sich bevormundet?
Pfaller: Wir dürfen es uns als erwachsene, mündige Bürger nicht gefallen lassen, dass die Politik uns wie Kinder behandelt und uns zunehmend unsere kleinen Freuden wie Trinken oder üppiges Essen miesmacht oder verbietet, dass sie die Universitäten zu schlimmeren Mittelschulen macht, wo nur noch Zwang und Kontrolle herrschen, dass sie uns vor " adult language" in Filmen wie Michael Hanekes Amour warnt oder uns ständig gouvernantenhaft auf Dinge hinweist, die wir sehr gut selber wissen - etwa dass Rauchen schädlich ist. Ich meine, da müssen wir reagieren und solchen Leuten zeigen, dass wir kein dummes Stimmvieh sind, das alles mit sich machen lässt.
STANDARD: Aber hat der (Sozial-)Staat nicht auch eine gewisse Fürsorgepflicht gegenüber jenen, die vielleicht nicht so bewusst leben und reflektiert sind wie Sie?
Pfaller: Das Problem ist eben, dass genau jene Politik, die die Einzelnen mit Verboten und lächerlichen, bevormundenden Hinweisen schikaniert, eben ihre Fürsorgepflicht vernachlässigt, indem sie den großen Konzernen zunehmend freies Spiel lässt: Diese Politik lockert zum Beispiel die EU-weiten Kontrollen bei den Futtermitteln und ermöglicht dadurch den Rinderwahn. Oder sie lässt zu, dass immer mehr genmanipulierte Äpfel auf den Markt kommen, die zwar nicht mehr braun werden, wenn man reinbeißt, die aber ebendarum auch nicht mehr gesund sind.
STANDARD: Welche Rolle soll denn der Staat einnehmen?
Pfaller: Das Prinzip muss lauten: "Friede den Hütten, Krieg den Palästen." Die vordringlichste politische Aufgabe besteht im Moment sicherlich darin, Regelungen durchzusetzen, damit die Irrationalität der absichtlich deregulierten Finanzmärkte nicht weiterhin Millionen Menschen in Europa in die Armut treibt und eine ganze Generation ihrer Zukunftsperspektive beraubt. Die Politik hat die Menschen vor Verarmung, Entsolidarisierung und Entdemokratisierung zu schützen. Die Mickrigkeiten hingegen, denen sich unsere Politik derzeit mit Vorliebe widmet - etwa: Glühbirnen, Bananen- oder Gurkenkrümmung, medizinische Nadeln - sind im Moment nur obszöne Ablenkungsmanöver. Sie sollen hinwegtäuschen über die Impotenz und den Unwillen der Politik, die entscheidenden Fragen zu behandeln. Ich nenne das Pseudopolitik.
STANDARD: Sie setzen auf "Eigenverantwortung". Wie definieren Sie die?
Pfaller: Der Zentralbegriff ist: Respekt vor der Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Mit der Eigenverantwortung hingegen verhält es sich wieder genauso zwiespältig wie mit der scheinbaren Fürsorge durch die Bevormundungspolitik: genau jene Individuen, denen man keinen mündigen Umgang mit ihren Genussmitteln zutraut, möchte man nämlich umgekehrt verantwortlich machen für ihre Krankheiten und ihr soziales Scheitern. Eben der Staat, der uns mit seinem "Fürsorgeterror" behelligt, möchte auf der anderen Seite, dass wir ihm Gesundheit und soziale Fitness schulden. Er ist nicht mehr bereit, selbstverständlich für alles zu zahlen, was Menschen in ihrem Leben eben kosten. Und das bei dem Wohlstand, der heute herrscht. Der großartige Stéphane Hessel hat mit Recht darauf hingewiesen, dass ein umfassender Sozialstaat selbst für das arme Nachkriegsfrankreich von 1949 durchaus vorstellbar und finanzierbar war.
STANDARD: Wenn Sie sich umsehen oder diverse TV-Talk- und -Trashformate ansehen - sehen Sie da wirklich die mündigen, eigenverantwortlichen Bürger, die Sie gern verschont sehen würden von staatlichen Regulierungen?
Pfaller: Wenn Sie das Trash-TV ansprechen: Bis in die 1990er-Jahre waren im österreichischen Fernsehen vorwiegend gut gekleidete Menschen zu sehen, die sich sachlich zu Fragen geäußert haben, die für die ganze Gesellschaft von Interesse waren. Mit der Vorherrschaft des Privatfernsehens ist das gekippt: Plötzlich sitzen nun dauernd Leute im Pyjama oder Betrunkene da, die ihre Privatmarotten ausbreiten. Das konnte zunächst als Befreiung erlebt werden, und es hat ja manchmal auch einen gewissen Unterhaltungswert. Aber wir dürfen nicht übersehen, was da verlorengeht: Kaum jemand hat mehr das Recht, im TV als politischer Bürger aufzutreten und ernst genommen zu werden. Fast alle dürfen überhaupt nur noch vor die Kamera, wenn sie bereit sind, sich als Freaks aufzuspielen.
STANDARD: Sie fühlen sich ja nicht nur vom staatlichen "Vormund" unzumutbar behelligt, Sie stoßen sich an jenen Zeitgenossen, die buchstäblich aus der "Rolle" fallen und ihre "Persönlichkeit" sehr expressiv ausleben und so ihre Umgebung nerven - meist im Namen ihrer " Freiheit". Wären da ein paar Grenzen nicht doch ganz gut?
Pfaller: Den Begriff "Freiheit" wenden viele derzeit fälschlicherweise auf ihr privates Leben an. Sie meinen mit "Freiheit", dass sie ihren Launen, Identitäten, Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten freien Lauf lassen dürfen. Freiheit ist aber genau das Gegenteil davon: Sie ist unsere Fähigkeit, diese "pathologischen" Neigungen, wie Immanuel Kant sagt, und Marotten hinter uns zu lassen. Erst dann werden wir zu etwas Allgemeinem, zu politischen Bürgern. Nur in dieser Eigenschaft können wir uns auch dauerhaft mit anderen solidarisieren: Denn wir können nicht mit den Befindlichkeiten der anderen solidarisch sein, sondern nur mit deren Fähigkeit, sie hinter sich zu lassen.
Eine staatliche und mediale Pädagogik aber, die uns ständig als unmündige, empfindliche, verletzliche und kränkbare Wesen hinstellt, arbeitet am Gegenteil. Sie tut so, als ob die Befindlichkeiten der Menschen das Beste an ihnen wären, und fragt sie ständig: "Stört dich da nicht etwas? Sollen wir den anderen - und dir - vielleicht noch etwas verbieten?" Auf diese Weise macht die Politik, unterstützt von bestimmten Medien, aus den Menschen furchtsame, feige, gehorsame, traurige und neidische Wesen, die das Glück des anderen immer nur als Nachteil erleben können und für autoritäre Politik anfällig sind.
STANDARD: Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie für die Politik?
Pfaller: Um nicht ihre eigenen Grundlagen zu zerstören, muss demokratische Politik ganz anders an die Leute appellieren. Sie muss signalisieren: "Du bist erwachsen. Du kannst das ertragen. Du stirbst nicht sofort, wenn du gegrilltes Lamm riechst, das aus dem Hof der Siedlung auf deinen Balkon heraufduftet; oder wenn du den Nachbarn Klavier üben hörst." Nur dann bekommen wir Bürger, die politisch handlungsfähig sind und das Glück des anderen auch als etwas solidarisch Teilbares erleben können. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 15.6.2013)