Der famose Kurt Kister, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, hat vor kurzem ein Stück über den Berliner Politikbetrieb geschrieben. Darin macht uns Kister mit einem Phänomen vertraut, das er das "Käseglocken- Syndrom" nennt. Die Politiker, die unter einer Käseglocke leben, schaffen demnach ständig "Ereignisse, die so wirken, als wären sie die Realität, und die deswegen den Käseglockenbewohnern die Möglichkeit geben, sich ausführlich mit ihnen zu beschäftigen".
Dieses Getue wiederum dringt durch die Glaswände der Käseglocken nach draußen, in die wahre Wirklichkeit, und wird von dort, erklärt uns Kister, in die Käseglocke zurückgespiegelt. Und jetzt passiert's: Die Käseglockenbewohner glauben nun, die "Welt draußen hänge eng mit der Wirklichkeit der Glocke zusammen oder werde gar von ihr gestaltet".
Von hier an herrscht nun die totale Einbildung. Das ist, lehrt uns Kister, "ungefähr so, als ob die Forelle im Gebirgsbach dächte, das Gebirge existiere, damit sie, die Forelle, im Gebirgsbach schwimmen könne". Beim ORF gibt es Kollegen, denen man weder das eine noch das andere Phänomen erklären muss, denn sie leben es. Im Bächlein, in dem sie schwimmen, spiegeln sich aus ihrer Sicht die mächtigen Gebirgszüge der Demokratie, der offenen Gesellschaft, die Höhenkämme der Kultur und die Gipfel der Zivilisation. Sie sind, weil die Forelle ist. Ist sie bedroht, kommt es zum Bergsturz, nein, die Welt geht unter.
Projektionsflächen
Es gibt bekanntlich immer mehr Leute, die glauben, dass es, wenn es ihnen nicht gut geht, auch mit der Welt insgesamt bergab geht. Sie beziehen alles auf sich. Ihr Leben wird übersichtlicher, wenn sie dafür Projektionsflächen entwickeln. Westeuropäer, die fürchten, dass ihnen in der Folge der Eurokrise etwas abhandenkommen könnte, schauen dabei auf Griechenland, jenes EU-Land, in dem die Leute echte Probleme haben. Dazu gehört ein aufgeblähter Beamtenapparat, Nepotismus und Parteibuchwirtschaft, Sachen, die auch heimischen Gebirgsforellen nicht fremd sein dürften.
Bekanntlich hat die griechische Regierung ihre öffentlich-rechtliche Sendeanstalt ERT am Dienstag geschlossen. Das war ruppig, man kann darüber streiten, ob das so nötig war. Andererseits kann man aber auch darüber reden, dass die ERT sehr viel mehr Mitarbeiter hat als vergleichbare Sendeanstalten. Man kann darüber reden, ob es angesichts der Sparplagen, die Griechen zu ertragen haben, okay ist, von den Steuerzahlern jährlich 300 Millionen Euro für den Betrieb eines Senders zu kassieren, bei dem die Reichweite der wichtigsten Nachrichtensendung gerade einmal sechs Prozent beträgt (die der Radiosender beträgt unter 1,5 Prozent).
Es ist wahr: Hohe Reichweite ist noch lange kein guter Journalismus. Aber das Gegenteil davon ist auch nicht richtig. Und dass die ERT demnächst in neuer Form mit 1200 Mitarbeitern neu erstehen soll, ist kein Grund zum Jubeln, aber noch lange kein "barbarischer und antidemokratischer Akt", wie das ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz hochstapelt. Die Reaktionen zeigen: Der ORF ist zur totalen Käseglocke geworden. Feinde des öffentlich-rechtlichen Systems und damit der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte allüberall.
Amtsanmaßung
In seiner ERT-Solidaritätsadresse vom Mittwoch schreibt der ORF- Redakteursrat, "der öffentlich-rechtliche Rundfunk und eine freie Presse sind die Infrastruktur der Demokratie", und weiter, dass die "Schließung oder "(Teil-)Privatisierung (eines) öffentlich-rechtlichen Senders (...) nie zu einer besseren demokratischen Verfasstheit des Landes" führen könne. Man kann das gar nicht anders lesen als so: Eine private, zivilgesellschaftliche, von Bürgern gestaltete und freiwillig getragene Medienlandschaft ist per se undemokratischer als eine, in der es einen dominanten öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt. Für diesen Unsinn gibt es nur ein Wort: Amtsanmaßung.
Aus Sicht der Pension Forellenhof, gelegen auf dem Wiener Küniglberg, ist die "freie Presse" eine reine Sättigungsbeilage für die eigenen Ansprüche. Eigentlich ist man selber die freie Presse. Denn Zeitungen, Privatsender, Blogs, Magazine, alles Nichtöffentliche, das steckt ohnehin mit den neoliberalen Interessen habgieriger Heuschrecken unter einer Decke: "Wer will in einem Land leben, in dem einige wenige, reiche Verlegerfamilien mit ihren Boulevardmedien die Meinung im Land bestimmen? Und es nicht um unabhängigen Journalismus geht, sondern in erster Linie um kommerzielle Interessen?"
Weltfremd
Das ist tendenziös, es beleidigt alle Journalisten der nicht öffentlich- rechtlichen Medien und vor allen Dingen auch die mündigen Bürger einer Zivilgesellschaft, die sehr wohl unterscheiden können, wer ihnen ein X für ein U vormacht - und dafür der Hilfe einer "fürsorglichen" Elite nicht bedürfen. Die im ORF offensichtlich verbreitete Vorstellung, der Bürger könne ohne seine, des ORF-Redakteurs, erst Bedeutung und Sinn stiftende Moderation des Tagesgeschehens unmöglich seine demokratischen Rechte wahrnehmen und Pflichten erfüllen, ist purer Anachronismus, schiere Selbstüberschätzung, ganz im Geist der Forelle, die meint, das Gebirge über ihr türme sich - selbstverständlich! - nur ihretwegen auf.
Das ist nicht der Fall, sondern weltfremd. Die Käseglocke ist innen beschlagen, das trübt den Blick. Und so wenig wie das, was darunter eine Rolle spielt, für die Menschen draußen wichtig ist, so wenig kann man die Realität durch den selbsterzeugten Nebel erkennen. Oder glaubt jemand, der ORF würde zum Thema der Schließung des öffentlich- rechtlichen Rundfunks in Griechenland objektiv informieren? Meint wirklich jemand, dass ein Informationsauftrag erfüllt werden kann, wo ein handfester Interessenkonflikt vorliegt?
Nein, das ist nicht neu. Aber es ist auch nicht schlimm. Man kann sich, weil die Demokratie eben nicht mit den Anstalten, die sie gelegentlich hervorbringt, untergeht, ganz hervorragend in Zeitungen, Magazinen, aus dem Web, über Blogs informieren, aus all den Quellen, die eine Demokratie und eine offene Gesellschaft wirklich ausmachen, ohne sich als deren einzige Ursache misszuverstehen. Die Realität riecht nach frischer Luft. Und die Käseglocke? Schlag nach bei Kister: "Wer drinnen ist, glaubt sich bedeutend. Wer draußen ist, kann sich nur wundern." (Wolf Lotter, DER STANDARD, 15./16.6.2013)