Was ist nur los bei den Spitzen der EU-Institutionen, aber auch in den Regierungen der Mitgliedstaaten, wenn es um die Türkei geht? Da ziehen Spezialeinheiten der Polizei bei friedlichen Demonstranten regelrechte Gewaltexzesse durch. Im Internet zeigen Videos, wie Flüchtende in Hotels mit Tränengas ausgeräuchert werden. Ärzte werden festgenommen.

Aber Kommissionschef José Manuel Barroso, Angela Merkel, Catherine Ashton und Co schwiegen am Sonntag eisern: kein Ausdruck des Bedauerns oder der Verurteilung; kein Appell an die Führung in Ankara, Eskalation zu verhindern; kein Wort zur Verpflichtung des EU-Beitrittskandidaten, Verfassung und Grundrechte der Bürger zu achten. Einfach nichts.

So peinlich, orientierungs- und hilflos hat man Europa außenpolitisch selten erlebt. Mit Sorgenfalten wird in Brüssel darauf verwiesen, dass die Sache eben kompliziert ist, man die Türkei nicht wegstoßen dürfe. Ein schwaches Argument. Niemand verlangt, dass jetzt gleich die Beitrittsverhandlungen, die ja auf Eis liegen, abgebrochen werden.

Aber eine sehr, sehr deutliche Klarstellung, wofür die Union steht, ist überfällig. Sonst kann sich ein Premier im Machtrausch wie Recep Tayyip Erdogan trotz dreister Missachtung der Grundrechte noch bestätigt fühlen. Es kann ja nicht sein, dass am Ende immer nur Justizkommissarin Viviane Reding auf Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit pocht - in EU- Staaten und auch solchen, die es werden wollen. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 17.6.2013)