Martin Bleif ist Onkologe und lehrt an der Klinik für Radioonkologie am Universitätsklinikum Tübingen. In seinem Buch stellt er sich in Form eines ausführlichen Dialoges den Fragen seiner Frau Imogen, die am 15. März 2010 an Krebs verstorben ist.

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Krebs ist die zweithäufigste Todesursache in den Industrienationen. Beinahe jeder dritte Mitteleuropäer erkrankt daran, mehr als vier von zehn Erkrankten sterben daran. Dennoch blenden viele Menschen den Gedanken an die chronische Erkrankung aus.

"Das hat nichts mit mir zu tun"

"Auch ich war ein Piotr Iwanowitsch", bezieht sich der Radioonkologe Martin Bleif auf Tolstois Romanfigur. Den qualvollen Tod des Iwan Iljitsch erlebt Piotr Iwanowitsch zunächst mit Schrecken, dann aus der Distanz heraus: Was mit ihm geschehen ist, hat nichts mit mir zu tun.

Lange herrschte auch für den Krebsspezialisten Bleif eine klare Rollenverteilung: "Die Patienten sind krank. Zu einer zweiten Kategorie von Menschen gehören die Ärzte." Das änderte sich schlagartig am 10. April 2008, als Bleifs Frau Imogen nur wenige Monate nach der Geburt der gemeinsamen Tochter die Diagnose Brustkrebs erhielt.

Ein Buch, das Bleif "so nicht schreiben wollte"

Nach 13 Jahren Arbeit in der Radioonkologie und vielen tausend Stunden Gesprächen mit Krebspatienten brach die Erkrankung in Bleifs Privatleben ein. Schon längere Zeit hatte er geplant, ein Buch über Krebs zu schreiben, doch "dieses Buch wollte ich nie schreiben", hält Bleif fest, "jedenfalls so nicht".

Das Ergebnis ist ein gut 500 Seiten starkes Werk mit dem Titel "Krebs. Die unsterbliche Krankheit". Es handelt sich um eine ausführliche Aufarbeitung: von der medizingeschichtlichen Entwicklung über die Entstehung von Krebs, die Vorgänge in den menschlichen Zellen und die vielfältigen Erscheinungsweisen und Therapiemöglichkeiten bis hin zu persönlichen Einblicken in den Umgang des Ehepaares Bleif mit der Erkrankung, von der Erstdiagnose bis zu Imogens Tod.

Der ideale Adressat

Knapp zwei Jahre lang begleitete Bleif seine Frau. Als "verwirrt, schockiert und dennoch als idealer Adressat" für Imogens Fragen bezeichnet sich der Onkologe, die da lauteten: Warum hat es mich erwischt? Habe ich etwas falsch gemacht? Was ist Krebs überhaupt? Wie entsteht er? Wie funktioniert er? Ist er eine Laune des Zufalls, ist er schicksalhaft, liegt er in den Genen, oder können Menschen durch ihr Verhalten Einfluss nehmen? Warum können Tumore zurückkommen? Gibt es dann noch Hoffnung?

Noch nie habe ihn eine Patientin so herausgefordert wie seine Frau, schreibt Bleif. Diese Fragen und Antworten über Leben und Tod bildeten einen Krebs-Dialog, der sich bis in Imogens letzte Tage fortsetzte.

Dabei widmet sich Bleif mehrere Kapitel lang der Geschichte der Krebsforschung. Er legt die komplexen biochemischen Vorgänge im Inneren einer Zelle auch für naturwissenschaftliche Laien verständlich dar und gibt Einblicke in mögliche Ursachen für die genetischen Mutationen, die in äußeren Faktoren - allen voran Rauchen, radioaktive Strahlung, Viren und Übergewicht -, aber auch in Vererbung begründet liegen können.

Schluss mit dem Mythos "Krebspersönlichkeit"

Viel Raum widmet er den aktuellen Therapieformen und vergleicht Krebs mit einem Puzzle aus unendlich vielen Teilen, das in seiner Gesamtheit nicht erfass- und begreifbar sei. Eine Überwindung der Krankheit sei trotz vielversprechender Forschungen heute nicht absehbar.

Bleif räumt mit dem Mythos der "Krebspersönlichkeit" auf, setzt sich mit dem Thema Alternativtherapien - von Atemtherapie bis Zaubertee - auseinander und weist sie nicht von der Hand, unter der Voraussetzung, dass sie sich im empirischen Praxistest als wirksam erweisen. Doch das sei bislang keinem der heute propagierten alternativen Verfahren gelungen. 

Ein Ritual der Liebe

Dennoch kocht der Radioonkologe seiner Frau bis zu dem Tag, an dem sie nicht mehr schlucken kann, indianischen Zaubertee. Ein tägliches Ritual der Liebe und des gegenseitigen Vertrauens, gerade aufgrund von Imogens Wissen, wie wenig der Glaube an den Tee in Martin Bleifs Vorstellungswelt passt. "Bei allen Krebserkrankungen, die nicht zur Heilung, sondern in den Tod führen, kommt die Erkrankung irgendwann an den Punkt, an dem die Medizin ins zweite Glied treten muss", beobachtet Bleif.

Wenn es keine Hoffnung mehr auf Heilung gibt und sich die Betroffenen oft bereits mit Sterben und Tod beschäftigen, ist es für ihre Ärzte verlockend, sich auf medizinische Probleme zurückzuziehen, weiß Bleif. Umso wichtiger sei es für Ärzte, aber vor allem Partner der Erkrankten, den Punkt zu erkennen, wo der an Krebs Erkrankte seine Hoffnung nicht mehr mit seiner Wirklichkeit in Deckung bringen kann.

Auch in diesem letzten Stadium der Erkrankung hält Imogen die Fäden für ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich in der Hand, und das ist eine der Botschaften des Autors: Krebs kann jeden jederzeit treffen, aber niemand muss sich ihm gänzlich unterwerfen und sein Leben für sinnlos oder vergeblich halten.

Tabu und "Nachtseite des Lebens"

"Wer Krebs hat, steht dem Tod gegenüber. Selbst wer dem Krebs entkommt und ins Leben zurückfindet, hat die verborgene 'Nachtseite' des Lebens erblickt", schreibt der Onkologe.

"In der Hoffnung, dass Phantome der Nacht im Licht etwas von ihrem Schrecken verlieren", nimmt er sich der "verschwiegenen Katastrophe" an, denn schließlich lindere Wissen auch die diffusen, kriechenden Ängste in uns. Der scheinbar dunkle Ursprung und die Gefährlichkeit der Erkrankung würden genau jene Mischung bilden, aus der Tabus entstehen.

Imogen zeigt ihrem Mann, wie sehr Menschen, die an Krebs erkrankt sind, nach Informationen hungern. Allein das Wissen mag heilsam sein, weil es die Tabus schwächt und die Unsicherheit mindert, sagt Bleif. Dennoch: Diesem unverstellten Blick muss man sich erst einmal stellen können. Sich der gut geschriebenen Lektüre der ebenso spannend wie ungeschönt dargelegten Fakten zum Krebs und den persönlichen Einblicken in Imogens Krankheitsverlauf zu widmen ist harte Kost. Aber sehr empfehlenswert für jene, die es wirklich wissen wollen. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 16.7.2013)