Es gibt günstigere Momente, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fortzusetzen. Wenn die EU-Außenminister nach dreijähriger Gesprächspause am 26. Juni ein neues Kapitel eröffnen, wird nicht wie geplant die Regional- und Wettbewerbspolitik im Vordergrund stehen, sondern natürlich die Unruhen in der Türkei. Zahlreiche hochrangige Politiker aus ganz Europa warnen vor einer Fortführung der Gespräche und fordern ein erneutes Aussetzen der Verhandlungen. Dieser Schritt hätte durchaus seine Berechtigung. Es wäre aber nur die zweitbeste Lösung.

Die EU steht vor einem schwierigen Drahtseilsakt. Einerseits will sie die Polizeigewalt gegen friedlich demonstrierende Menschen nicht tolerieren. Andererseits möchte sie die Türkei nicht als wichtigen geostrategischen und ökonomischen Partner verlieren. Das erklärt unter anderem die Reaktion der EU-Kommission, die am Freitag von "positiven und konstruktiven Signalen" des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan im Konflikt mit den Demonstranten sprach. Und auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton erklärte: "Dies ist nicht der Moment, sich zu lösen, sondern sich noch stärker zu engagieren."

Auf der anderen Seite wird vor der Symbolik gewarnt, die ein Fortsetzen der Beitrittsverhandlungen erzeugen würde. "Es wäre ein schlimmes Signal, wenn ausgerechnet jetzt die EU ungerührt so weitermacht wie bisher. Eine solche Entscheidung könnte Erdogan bei seiner repressiven Politik ermutigen", sagte etwa Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament.

Dass Erdogan die Weiterführung der EU-Gespräche als Triumph und Bestätigung seines Vorgehens zelebrieren würde, liegt nahe. Man denke nur an die Jubelfeiern, die er am Wochenende organisieren ließ. Allerdings würde auch ein Aussetzen der Gespräche Erdogan in die Hände spielen, hätte er damit doch einen gewichtigen Grund mehr, gegen das Ausland zu wettern, das der Türkei scheinbar nichts Gutes will.

Der Ausweg liegt wie so oft in der Mitte. Wie von einigen Politikern vorgeschlagen, sollten die Beitrittsverhandlungen wie geplant fortgesetzt werden. Allerdings mit einem neuen Themenkomplex: Menschenrechte. Einfach den Finger in die klaffende Wunde legen. Im schlimmsten Fall lehnt Erdogan beleidigt ab. Doch die EU hätte ihr Gesicht gewahrt. Und könnte dann guten Gewissens Druck auf die Türkei ausüben. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 17.6.2013)