Manfred Nowak (li) und Christian Strohal haben 1993 mit 10.000 VertreterInnen von Regierungen, den Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaft an einem historischen Kompromiss für die Menschenrechte gearbeitet.

Fotos: Standard/Cremer

Einen "Meilenstein des globalen Menschenrechtssystems" nennen Experten und Historiker die Weltmenschenrechtskonferenz, die im Juni 1993 in Wien stattfand. Über 10.000 VertreterInnen von Regierungen, den Vereinten Nationen und der Zivilgesellschaft aus aller Welt nahmen an dieser Konferenz teil. Der größte Erfolg: die lange umstrittenen Schaffung des Büros der Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Doch das Hochkommissariat war damals nur eines von hunderten strittigen Themen, mit einem erfolgreichen Abschluss rechnete fast niemand, erzählt 20 Jahre danach Christian Strohal, der als Sonderbotschafter mit der Vorbereitung und Durchführung der Konferenz in Wien befasst war. Der internationale Menschenrechtsschutz stehe heute gut da, was vielerorts fehle, sei der politische Wille, so Strohal. Menschenrechtsexperte Manfred Nowak sieht vor allem in der fehlenden rechtlichen Durchsetzbarkeit von Menschenrechten noch eine eklatante Lücke. Er wünscht sich einen Weltgerichtshof für Menschenrechte.

derStandard.at: In diesen Tagen wird der 20. Jahrestag der Weltmenschenrechtskonferenz begangen. Sie fand kurze Zeit nach Ende des Kalten Krieges statt. Welche Bedeutung hatte diese Konferenz für die Menschenrechte aus heutiger Sicht?

Strohal: Sie hat einen fundamentalen Wandel im internationalen Menschenrechtsschutz gebracht. Vor allem durch drei Dinge: Der globalen Zivilgesellschaft wurde in dieser Konferenz erstmals eine Stimme gegeben. Das Wiener Boltzmann-Institut für Menschenrechte organisierte damals ein Parallelforum mit über 1500 NGOs, die auch am zweijährigen Vorbereitungsprozess teilnahmen. Ein zweiter wichtiger Punkt: die Konferenz gab den Anstoß für die Schaffung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, der den Menschenrechtsschutz in 190 Ländern auch direkt durch praktische Maßnahmen unterstützt. Drittens gab die Konferenz den entscheidenden Anstoß dafür, dass Frauenrechte gleichberechtigt in den Fokus des Menschenrechtsschutzes kamen.

derStandard.at: Was waren die Streitpunkte auf der Konferenz?

Strohal: Es wäre leichter zu sagen, was nicht strittig war. Der zweijährige Vorbereitungsprozess war eine Katastrophe. Wir kamen nach diesem Prozess mit dem Entwurf der Vienna Declaration and Program of Action nach Wien, da waren 218 Passagen strittig. Die Konferenz sollte zwei Wochen dauern. Es war ziemlich illusorisch, all diese Passagen aufzulösen. Dass wir diese Konferenz mit einem Erfolg abschlossen, grenzt an ein Wunder. Die Universalität der Menschenrechte war lange umstritten und der Umstand, dass die Staatengemeinschaft eine Verantwortung hat und dass Menschenrechte nicht exklusiv eine innere Angelegenheiten von Staaten sind. Das letzte Problem, das gelöst wurde, war das Amt des Hochkommissars.

Nowak: Der historische Kompromiss war, dass der Süden und China letztendlich zugestimmt haben, dass alle Menschenrechte als universell zu bezeichnen sind. Und der Norden hat zugestimmt, dass alle Menschenrechte gleich viel wert – auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – und unteilbar sind. Das ganze Recht auf Entwicklung war zum Beispiel eine Forderung des Südens, gegen die sich die USA lange gesträubt hat. Da spielten natürlich Fragen wie Sklaverei und Reparationen dafür eine zentrale Rolle.

Strohal: Der Themenbereich "Indigene Völker" war lange ein Streitthema. Da hing sich letztlich nur an einem Buchstaben auf. Sagt man "indigenous people" oder "peoples". Dieses "s" ist nicht und nicht gelungen. Der damalige Konferenzpräsident Alois Mock hat die NGO-Konferenz besucht und wurde gefragt: "Sind Sie für das 'S'?" Er antwortete: "Ich bin der Konferenzpräsident". Ein NGO-Mitarbeiter fragte ihn dann, ob er ihm einen Zettel mit einem großen S auf den Rücken kleben durfte und er bejahte. So ging er also eine Stunde lang mit Kamerateam und großem "S" auf dem Rücken durch die NGO-Konferenz.

derStandard.at: Die Konferenz war in dieser Form auch deshalb möglich, weil der Kalte Krieg beendet war.

Nowak: Die Konferenz fand in einem window of opportunity statt. Es war die Zeit, als Gorbatschow mit Mitterand von einem gemeinsamen politischen Haus schwärmte. Der alte Ost-Westkonflikt war nach dem Ende des Kalten Krieges weggefallen. Bis zu einem gewissen Grad trat zwar schon ein neuer, sagen wir "Nord-Südkonflikt" langsam an dessen Stelle, der war aber noch nicht ausgeprägt.

derStandard.at: Haben sich die Erwartungen von damals erfüllt?

Strohal: Ich sage, wir haben sie übererfüllt. Wer damals gesagt hätte, dass es zwanzig Jahre später eine Hochkommissarin mit 1200 Mitarbeitern auf über 60 Länder verteilt gibt, die sich konkret für den Schutz der Menschenrechte engagieren: Wir hätten ihn ausgelacht. Wer damals gesagt hätte, dass es ein internationales Verfahren geben wird, bei dem alle Länder regelmäßig und öffentlich über ihre Menschenrechtssituation Rede und Antwort stehen müssen: Man hätte uns ausgelacht. "Die Volksrepublik China oder Kuba wollt ihr einladen, die werden nicht kommen", hätte es geheißen. Sie sind gekommen, wie alle anderen 191 Länder auch. Ich sage damit nicht, dass im Menschenrechtsschutz alles gut ist und nicht noch genügend zu tun ist. Bei einem derartigen Thema kann das Glas immer nur halbvoll sein. Der internationale Menschenrechtsschutz steht aber gut da. Was vielerorts fehlt, ist der ausreichende politische Wille.

derStandard.at: Wie sehen Sie das mit den Erwartungen?

Nowak: Im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (wsk-Rechte, Anm.) wurden weit nicht alle Erwartungen erfüllt. Da gehört auch Österreich dazu. Wir haben die wsk-Rechte immer noch nicht als Grundrecht in der Verfassung anerkannt. Auch die Universalität der Menschenrechte wird nach wie vor von Staaten wie China oder manchen islamischen Staaten in Frage gestellt.

derStandard.at: Ein Recht, das vor Gericht nicht durchsetzbar ist, ist allerdings kein wirkliches Recht. Wann kommt ein Weltgerichtshof für Menschenrechte? Internationale Gerichtshöfe gibt es ja bereits.

Nowak: Aus institutioneller Sicht ist das meiner Meinung nach eine der großen Lücken. Der Weltgerichtshof für Menschenrechte ist aber immer noch eine Privatinitiative von ein paar Wissenschaftlern und NGOs und wenigen Staaten wie der Schweiz oder Uruguay. Ein derartiger Gerichtshof wäre aber ein Riesenschritt, weil wir damit verschiedenste Probleme lösen könnten. In Europa kann ich mich direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden, außerhalb nicht. Auch Internationale Organisationen wie die UNO, die NATO oder die EU haben zunehmend Macht, können aber nicht wegen Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden. Mit dem Weltgerichtshof hätten wir ein Vehikel, mit dem auch diese Organisationen zur Verantwortung gezogen werden könnten. Und: auch mächtige, nichtstaatliche Akteure wie transnationale Unternehmen können Menschenrechtsverletzungen begehen. Auch die kann ich bis jetzt nirgends dafür belangen.

derStandard.at: Welche Dynamik hat der arabische Frühling angestoßen, was die internationalen Menschenrechte betrifft?

Nowak: Ursprünglich spielten die Revolutionen, die in Tunesien begannen und dann auf andere Staaten wie Ägypten, Libyen, Bahrain und Syrien übersprangen, eine wirklich positive Rolle. Sie waren zu Beginn getragen von einer nicht fundamentalisistischen, nicht militaristischen jungen Generation, die genug von dem dikatorischen Führungsstil in ihren Ländern, von Nepotismus und Menschenrechtsverstößen hatte. Diese ursprünglich friedlichen Demonstranten forderten Rechtsstaat und Demokratie. Die Diktatoren reagierten auf diese Demonstrationen leider mit dem brutalen Einsatz der Staatsgewalt statt mit Diplomatie. Daraus entwickelten sich eigene Dynamiken, die über kurz oder lang dazu führten, dass – wie zum Beispiel die Muslimbrüder in Ägypten – diejenigen Oberwasser bekamen, die am besten strukturiert sind und nicht die mit den besten Argumenten.

Ich bin im Prinzip aber positiv, dass das Übergangsphasen sind, die sich über kurz oder lange überleben. Zumindest ist die Chancen auf Demokratisierung nicht gestorben. Und wenn in einer Region wie der arabischen Welt, in systematischen Folterstaaten, tatsächlich ein Demokratisierungsprozess beginnt, dann hätte das massive Auswirkungen auf Diktaturen in Afrika und Asien.

derStandard.at: Bei Syrien ist der Absprung in eine positivere Richtung allerdings längst verpasst.

Nowak: Syrien ist natürlich eine Katastrophe, die – abgesehen vom Regime – primär der Russischen Föderation anzulasten ist. Mir geht es nicht darum, wie in Libyen militärisch einzugreifen. Man hätte aber sehr wohl zu einem sehr frühen Zeitpunkt – hätten Russland und China das im Sicherheitsrat nicht verhindert – Flagge zeigen und ökonomische Sanktionen setzen sollen. Vielleicht hätte das den Verlauf beeinflusst.

derStandard.at: Apropos Flagge zeigen: Seit drei Wochen werden nun schon die Proteste gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in der Türkei gewaltsam niedergeschlagen. In der EU wird nun überlegt, ob man die EU-Annäherung weiterführen soll oder nicht. Wie soll die EU Ihrer Meinung nach auf die Gewalt in der Türkei reagieren?

Nowak: Mich verwundet es, dass die Europäische Union bisher sehr zurückhaltend auf die Entwicklungen in der Türkei reagiert hat. Meines Erachtens ist es höchste Zeit, klare Signale zu setzen. Die Art und Weise, wie die Türkei auf friedliche Demonstrationen reagiert, ist gerade für ein Land, das mitten im EU-Annäherungsprozess ist, absolut unakzeptabel. Die Lehren aus dem Arabischen Frühling sind, dass diese Form der Reaktion auf eine breite Bewegung, die gegen einen autoritären Führungsstil auftritt, der falsche Weg ist. Der richtige wäre, die Demonstranten ernst zu nehmen.

derStandard.at: Soll die EU Ende Juni mit der Türkei weiterverhandeln?

Nowak: Nein, in der derzeitigen Situation nicht. Die türkische Regierung muss erst zeigen, dass sie bereit ist, solchen demokratischen Bewegungen im Rahmen ihrer internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen zu begegnen. (mhe, derStandard.at)