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Trauer trifft Trauma. Wie diese Frau, die in Vlasenica, dem serbischen Teil in Bosnien, um Angehörige weint, ist eine ganze Generation mit den Erlebnissen und Verlusten des Krieges konfrontiert.

Foto: Reuters

Sie schreit in der Nacht, knirscht mit den Zähnen und zittert. Wenn sie aufwacht, kann sie sich allerdings an nichts mehr erinnern. Sie versteht nicht, weshalb sie so viele Albträume hat, die so realistisch erscheinen. Blerta M. aus dem Kosovo wurde 1999 mit ihrer gesamten Familie mit Gewalt aus ihrem Haus vertrieben. Ihr Vater und ihre Brüder wurden von Soldaten geprügelt. Frau M. hatte damals panische Angst, dass eines ihrer Familienmitglieder getötet werde. Sie kann sich an ihre Flucht nicht mehr erinnern. Psychologen nennen das Phänomen Dissoziation: die Trennung von Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten. Das Geschehne läuft wie ein Film vorbei, wie ein Traum. Weil es aber wirklich passiert ist, wiederholt sich der Film ständig. Auch in den Träumen. Viele Traumaopfer leiden darunter.

Nach dem Ersten Weltkrieg hießen sie "Kriegszitterer". Es handelte sich um Veteranen, die sich kaum auf den Beinen halten konnten und in Panik verfielen, wenn sie irgendetwas an die Gewalterlebnisse erinnerte. Heute spricht man von PTBS, von einem posttraumatischen Belastungssyndrom. Seit dem Kroatienkrieg (1991-1995), dem Bosnien-Krieg (1992-1995) und dem Kosovo-Krieg (1999) litten und leiden zigtausende Menschen in Südosteuropa unter PTBS. Sie können nicht schlafen, haben Flashbacks, Panikattacken, Wutausbrüche, plötzliche emotionale Auszucker und Konzentrationsschwierigkeiten. Manche sind sozial völlig isoliert, manche flüchten in die Arbeit, als Abwehrmechanismus. Viele geraten, um den psychischen Schmerz zu mildern, in Abhängigkeit von Alkohol oder anderen Drogen.

Dragica Kozarić-Kovačić kennt tausende solcher Patienten-Geschichten. Die Psychiaterin sitzt sie im ehemaligen Militärspital Dubrava, einem riesigen blauen Gebäude am Rande von Zagreb, im Nationalen Zentrum für Psychotraumatologie. Zu den mehrfach Traumatisierten gehörten oft Menschen, die zusehen mussten, wie ein Angehöriger getötet wurde oder die in einem Lager gefoltert und/oder vergewaltigt wurden und unter Lebensbedrohung standen, erklärt sie.

Sexuelle Gewalt als Tabu

In Bosnien-Herzegowina wurden mehrere zehntausend Muslimas systematisch von serbischen und kroatischen Soldaten vergewaltigt, gefoltert und in Lagern gefangen gehalten. Manche kamen später nach Suizidversuchen in die Psychiatrie. Viele haben bis heute nicht darüber gesprochen, auch weil sexuelle Gewalt in patriarchalen Gesellschaften tabuisiert wird. Im Kosovo, wo es ebenfalls zu Massenvergewaltigungen gekommen ist, wird eine Vergewaltigung zudem zuweilen als eine Ehrverletzung der Familie verstanden. Die Opfer werden ausgegrenzt.

Die Gynäkologin und Frauenrechtlerin Monika Hauser, die bereits in den Kriegsjahren sowohl in Bosnien, als auch im Kosovo Therapiezentren der Organisation medica mondiale für vergewaltigte Frauen aufgebaut hat, betont, wie wichtig Mitgefühl sei, damit die Überlebenden über die Gewalt reden könnten. Im therapeutischen Prozess sei es außerdem für die Frauen wichtig, die Kontrolle darüber zu behalten, über was sie wann reden, um sich auch vor starken Gefühlen, die beim Erinnern hochkommen, zu schützen.

In einer ersten Phase wird von Therapeutinnen ein Bezug zu den Symptomen hergestellt, um die Frauen zu stabilisieren. Im nächsten Schritt kann versucht werden, auch die traumatische Erfahrung zu rekonstruieren. Dann geht es darum, die Traumaerfahrung zu integrieren, damit die Frau sich nicht als Opfer, sondern als Überlebende wahrzunehmen beginnt. Die Frauen, die unmittelbar nach den Vergewaltigungen psychosoziale Hilfe in Anspruch nahmen, konnten besser darüber sprechen, erzählt Hauser."„Die, die bereits ein Jahr oder länger auf der Flucht oder im Lager waren, hatten bereits chronische Symptome als Abwehrmechanismus entwickelt."

Psychosoziale Versorgung kaum vorhanden

Hauser betont, wie wichtig für die Überlebenden ökonomische und soziale Sicherheit sei, um sich auch psychisch zu stabilisieren. In Bosnien-Herzegowina, wo auch die politische Situation äußerst instabil ist und im Kosovo ist die wirtschaftliche Perspektive allerdings mehr als schlecht. Auch die psychosoziale Versorgung ist dort nur rudimentär vorhanden. Zudem sei durch die Gewalteskalation, auch nach dem Krieg in den Familien weiter Gewalt ausgeübt worden, erzählt Hauser.

Die Überlebenden werden häufig in ihrer eigenen Gesellschaft aufgrund der Vergewaltigungen stigmatisiert. "Diese Ausgrenzungen sind für die Opfer verheerend und retraumatisierend", sagt Hauser. Sie spricht von einem zusätzlichen "politischen Trauma" für die Frauen, wenn nach wie vor die Verbrechen geleugnet werden.

Deshalb seien auch die Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag für die Überlebenden wichtig. "Es kann die zerbrochene Welt wieder ein wenig zusammenfügen, wenn es eine Institution gibt, die sagt: Ja das ist geschehen und ja der Täter wird verurteilt", so Hauser. Beispielgebend war etwa ein Prozess vor dem Jugoslawien-Tribunal zu Massenvergewaltigungen im Sommer 1992 im ostbosnischen Foča. Während Männer vertrieben und getötet wurden, wurden die Bosniakinnen im Rahmen einer "psychologischen Kriegsführung" regelmäßig von Soldaten aus den Lagern abgeholt und in Wohnungen oder Hotels vergewaltigt. Seit 2006 bekommen solche Frauen bei Vorlage eines Gutachtens vom bosnischen Staat zumindest eine kleine Pension – einmalig für ein Nachkriegsland.

Aber auch politische Handlungen, wie kollektives Erinnern oder eine öffentliche Entschuldigung jener, die politisch für die Verbrechen verantwortlich sind, können für die Opfer hilfreich sein. „Wichtig ist Solidarität und dass die Überlebenden in die Gesellschaft aufgenommen werden", sagt Hauser. Ganz ähnlich sieht das die kroatische Psychiaterin Kozarić-Kovačić: "Es geht darum, dass die Gesellschaft das Trauma anerkennt."

Selbstmordgedanken

Kozarić-Kovačić hat auch mit Veteranen gearbeitet, die oft versuchten, ihr Trauma nicht zu zeigen. Viele somatisieren: Sie leiden unter Magenschmerzen, Herzrasen, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen und Atembeschwerden. Manche verspüren starke Schuldgefühle, weil sie selbst Gewalt ausgeübt haben. "Manche von denen haben die Kontrolle verloren, weil sie in eine so machtvolle Position gekommen sind", erklärt Kozarić-Kovačić. Danach, wenn diese Menschen realisierten, was sie getan haben, hätten manche Selbstmordgedanken.

Wie stark und nachhaltig Kriegstraumata wirken können, hat auch jener Kriegsveteran, der Anfang April in einem Dorf in Serbien zwölf Erwachsene und ein Kind niederschoss, in Erinnerung gerufen. Erhebungen von Ärzten deuten darauf hin, dass 45 Prozent der Soldaten, die im Bosnien-Krieg waren, an PTBS leiden. Allein in Kroatien wurden im Jahr 2010 bei 32.000 Personen BTBS diagnostiziert. Studien zufolge ist PTSB in Postkonfliktstaaten bei mindestens einem Drittel der Bevölkerung zu finden. Laut einer Untersuchung von Kosovo-Albanern zeigten 22,6 Prozent PTBS-Symptome, Angst und Depression. Unter den bosnischen Flüchtlingen litten Studien zufolge 40 Prozent unter PTSB. Laut einer Untersuchung von Loncar et al. zu im Bosnien-Krieg vergewaltigten Frauen, litten 80 Prozent unter Depressionen und 32 Prozent an PTBS.

Das Zentrum für Psychotraumatologie in Zagreb bietet vier Programme an, manche Patienten bleiben für einige Wochen, manche gehen in Gruppentherapie, manche in Einzeltherapie. Auf der Station gibt es 30 Betten, aber die sind immer überbelegt. Die Warteliste ist lang. Pro Monat werden hier etwa 2100 Personen betreut.

Bei manchen Patienten kommen auch heute, viele Jahre nach dem Krieg, Erinnerungen hoch, wenn es donnert oder jemand laut die Türe zuschlägt. Aber auch Gerüche oder Filme können "Trigger" sein, also Auslöser, dass die Gewalterfahrungen ins Bewusstsein kommen. Kozarić-Kovačić rät daher auch den Patienten, keine Filme oder Nachrichten, die mit dem Krieg in Zusammenhang stehen, anzuschauen oder anzuhören.

Sehr abhängig von der jeweiligen Persönlichkeit ist es, ob, und vor allem wann, es Traumaopfern hilft, über das Erlebte zu reden. Voraussetzungen sind politische und ökonomische Stabilität, die aber gerade in Südosteuropa fehlen. Kozarić-Kovačić betont, dass niemand, vor allem nicht öffentlich dazu "gezwungen" werden dürfe, über das Erlebte zu sprechen. „Man musst warten, bis jemand Vertrauen hat."

"Es ist zu früh, um darüber zu reden"

Einige Wissenschafter gehen davon aus, dass Gesellschaften drei Generationen brauchen, um einen Krieg zu verarbeiten. Über das kollektive Trauma jenseits der Heroisierungen wird oft geschwiegen. "Es ist zu früh, um darüber zu reden", beschreibt Kozarić-Kovačić auch die Befindlichkeit der kroatischen Gesellschaft, 18 Jahre nach Kriegsende. Jedenfalls kommt es in den Familien von Traumatisierten oft zu "Sekundärtraumatisierungen", die manchmal in die dritte Generation gehen. Während sich viele Menschen in den ehemaligen Kriegsgesellschaften noch stark mit mehr oder weniger siegreichen Militärs und sogenannten "Helden", von denen manche als Kriegsverbrecher angeklagt wurden, identifizieren, fehlt oft die Identifikation mit den Opfern, also mit jenen, die physisch und psychisch schwer verletzt wurden.

Diese fürchten oft, als "verrückt" abgestempelt zu werden, wenn sie psychologische oder psychiatrische Hilfe suchen. Die Angst vor Stigmatisierungen hat einen realen wirtschaftlichen Hintergrund: Wer offen sagt, an einer psychischen Krankheit zu leiden, muss in den Staaten Ex-Jugoslawiens, wo die Arbeitslosigkeit bei 30, 40 Prozent liegt, Sorge haben, gefeuert zu werden. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, 18.6.2013)