Walser Bäuerinnen beim Haiba (Heuen) im Steilhang. Eine Alltagsszene im Großen Walsertal, beobachtet von Nikolaus Walter. Der Vorarlberger Fotograf dokumentiert seit 1977 das Leben in den Vorarlberger Walserdörfern abseits von Folklore und Tourismus - nicht immer zur Freude der Walsertümler. Dieses Foto stammt aus dem Bildband "Steiles Erbe", erschienen 2003 im Verlag Brandstätter.

Foto: Nikolaus Walter

Die gesicherten und vermuteten Wanderzüge der Walser.

Grafik: Standard

Mittelberg - Nicola Vicquery trägt einen frankoprovenzalischen Nachnamen und lebt in Gressoney, einem Bergdorf im Aostatal. Dort spricht man Italienisch. Im Nachbartal, woher die Familie väterlicherseits stammt, sprach man einen provenzalischen Dialekt. In Gressoney hingegen "Titsch", wie die "Greschuneier" das Walserdeutsch nennen. Im Nachbardorf Issime sagen sie zur Sprache der Vorfahren, einer höchstalemannischen Mundart, "Toitschu".

Leider interessierten sich die Jungen nicht mehr für diese Mundart, "die Sprache wird aussterben", bedauert Nicola Vicquery. Als er im Kindergarten war, erinnert sich der 39-Jährige, "hatten wir eine italienische Kindergärtnerin und eine Helferin zum Dolmetschen". Heute gebe es in Gressoney, seine Familie mitgezählt, noch drei junge Familien, die das Walserdeutsch pflegen.

Gemeinsamer Dialekt geht verloren

Die Sprachbarriere mache die Kommunikation mit den Südwalsern schwer, sagt Felicitas Walker, Sekretärin der Internationalen Vereinigung für Walsertum in Brig (Wallis). Der gemeinsame Dialekt gehe verloren. "Aber wir verstehen uns." Wir, das sind für Walker vor allem die 1800 Mitglieder der Walservereinigungen in der Schweiz, Italien, Liechtenstein und Österreich. In diesen Vereinen wird das Walserbewusstsein gepflegt.

Bei den internationalen Treffen - das diesjährige wird von 13. bis 15. September von den Gemeinden des Großen Walsertals in Vorarlberg ausgerichtet - geht's dann vor allem um Brauchtum und Folklore. "Beim Feiern ist die Sprache nicht so wichtig", sagt Vicquery, der mit 93 Walsern aus dem italienischen Lystal kommen wird.

700 Jahre Walser in Vorarlberg

Die Walliser, Graubündner, Tessiner, Italiener, Liechtensteiner und Tiroler werden mit den Vorarlbergern deren Jubiläum feiern: 700 Jahre Walser in Vorarlberg. "Gemeinhin wird nämlich angenommen, dass seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert alemannische Bewohner des oberen Wallis ihre Heimat verlassen und sich zunächst in den benachbarten Hochtälern angesiedelt hätten", schreibt der Leiter des Vorarlberger Landesarchivs, Alois Niederstätter, im Wanderbuch "Walserweg Vorarlberg".

Eine große Migrationsbewegung aus der Walliser Hochebene Goms, die im 14. Jahrhundert auch Vorarlberg erreicht haben soll, ist wissenschaftlich nicht gesichert. Mit Urkunden nachweisbar ist aber, dass 1313 die Grafen von Montfort im Laternsertal (Bezirk Feldkirch) Alplehen an vier Walliser vergeben haben. Die Vorarlberger Walservereinigung sieht darin den Ursprung der Vorarlberger Walser.

Mythos Walser

Im 19. und 20. Jahrhundert wurde dem Walser der Kranz des freien, unerschrockenen Bergbauern, der unwirtliche Gegenden rodete und kultivierte, gewunden. "Selbstbestimmt und demokratisch - dieses Bild beruht weitgehend auf einem Mythos", sagte Historiker Uli Nachbaur vergangene Woche beim offiziellen Festakt, dem Walser Kirchentag, "einem Mythos, der spätestens mit der Gründung der Walservereinigung zur Wahrheit erhoben wurde." Die Walser als ethnische Gemeinschaft zu sehen sei eher ein soziologisches als ein historisches Phänomen.

Uli Nachbaur macht in der Walserliteratur rassenbiologische Denkmuster aus. Sie wirkten ausgrenzend und verstellten den Blick auf das Wesentliche. "Denn es ging nicht um Walserblut, sondern um Walserrecht. Entscheidend war nicht, ob jemand aus dem Wallis stammte, sondern ob er einer Rechtsgemeinschaft angehörte." Das waren Steuer- oder Verwaltungsgenossenschaften wie die fünf Walser Gerichte.

Was haben die Walser der unterschiedlichen Länder heute gemeinsam? "Den Tourismus", vermutet Nicola Vicquery. Touristische Hotspots wie Lech und Zermatt sind Walserdörfer. Die Walser gelten als gute Vermarkter. Simples wie Bergkäse oder eine Buskarte wird mit dem Zusatz "Walser" zur Besonderheit. "Wo Begriffe vermarktet werden, ist Vorsicht geboten", warnt der Schweizer Ethnologe Jean-Pierre Anderegg. So stellt er im neuen Walserweg-Wanderbuch das Walserhaus infrage. Das typische Haus gebe es nicht, "sondern eine Vielzahl origineller Hauspersönlichkeiten, die den Walserweg säumen". So wird es wohl auch mit den Menschen sein: Man kann sie nicht alle unter einen Walserhut bringen. (Jutta Berger, DER STANDARD, 18.6.2013)