Nicht nur viele Menschen zieht es in die Stadt - auch zahlreiche Wildtiere wissen ihre Vorteile zu schätzen, allen voran das höhere Nahrungsangebot und das mildere Mikroklima. Im Gegenzug dazu nehmen sie die schlechtere Luft und die Gefahren des Straßenverkehrs auf sich. Mäuse gehören dabei zu den Arten, mit denen der Mensch schon seit langem seine Siedlungen teilt. Forscherinnen des Naturhistorischen Museums Wien (NHM) begaben sich auf ihre Spuren und untersuchten, wie tief sie sich in die Bundeshauptstadt wagen und inwieweit sie dort noch von früher vorhanden sind.

Wie jede andere Stadt stellt auch Wien keinen homogenen Lebensraum dar, sondern ist ein Konglomerat aus vielen, teilweise sehr unterschiedlichen Habitaten, von der Steinwüste bis zum naturnahen Wald. Wien weist dabei im internationalen Vergleich einen hohen Anteil an Grün auf: Weniger als die Hälfte seiner Fläche ist versiegelt, der Rest besteht aus Gärten, Parks, Friedhöfen, landwirtschaftlichen Flächen, Wald und Gewässern. Selbst in dicht bebauten Gegenden finden sich große Parkanlagen wie der Stadtpark, Schönbrunn oder Augarten, ganz abgesehen von zahlreichen kleineren "Beserlparks".

Gerda Mitter vom Department für Integrative Zoologie der Universität Wien untersuchte im Rahmen ihrer Diplomarbeit am Naturhistorischen Museum Wien die Besiedlung der Hauptstadt durch die Gruppe der Langschwanzmäuse entlang eines sogenannten urbanen Gradienten, das heißt vom Stadtrand zum Zentrum hin.

Erdnussbutter-Fallen

Langschwanzmäuse oder echte Mäuse (Gattung: Apodemus) sind gelb-, grau- oder rötlich-braun mit weißem Bauch, acht bis elf Zentimeter groß und haben einen langen Schwanz sowie große Augen und Ohren. Sie sind vorwiegend nachtaktiv und fressen sowohl Samen, Früchte und Knospen als auch Insekten und andere kleine Wirbellose. In der Stadt nehmen sie aber auch gern menschliche Abfälle. In Österreich kommen fünf Arten vor, die jedoch nicht alle für das Stadtleben geeignet sind. Genaueres wusste man bisher allerdings nicht. Mitter setzte sich nun erstmals mit diesen Kleinsäugern im Wiener Stadtgebiet systematisch auseinander.

Mitter und ihre Betreuerin Anita Gamauf vom NHM wählten 59 Standorte in 23 Wiener Parks aus, deren Mäusepopulationen sie mithilfe von Lebendfallen erhoben. An jedem Standort wurden für jeweils 48 Stunden zehn bis 20 Fallen aufgestellt, die mit Erdnussbutter bestückt und jeweils morgens und abends kontrolliert wurden. Die gefangenen Mäuse wurden an Ort und Stelle gewogen, vermessen und wieder freigesetzt - ein Unterfangen, das nur wenige Minuten dauerte.

Nichtsdestotrotz ging ein guter Teil der Fallen oder zumindest ihres Inhalts auf die eine oder andere Weise verloren. "Manche Fallen wurden zerstört, manche sind einfach verschwunden", schildert Mitter, "wieder andere wurden offenbar geöffnet oder sonst wie manipuliert." Daran änderte auch das Hinweisschild, auf dem Zweck und Vorgehensweise der Aktion erklärt wurde, nichts; ebenso wenig wie die Telefonnummer, unter der man sich darüber hätte informieren können - ein Angebot, das jedoch niemand nutzte.

Die restlichen Fallen waren insgesamt mehr als 2600-mal im Einsatz. Dabei wurden neben einer Hausmaus, einer Wanderratte und einer Rötelmaus 127 Langschwanzmäuse dreier verschiedener Arten gefangen: Die beiden häufigsten waren dabei die Waldmaus (Apodemus sylvaticus), die knapp die Hälfte aller Fänge stellte, und die Gelbhalsmaus (A. flavicollis) mit rund 43 Prozent. Die dritte Art, die Zwergwaldmaus (A. uralensis), die mit acht Prozent zu Buche schlug, kam für die Biologinnen selbst überraschend: "Es ist das erste Mal, dass sie in der Stadt nachgewiesen wurde", betont Mitter, "in der Literatur gilt sie als Steppentier."

Ungleichmäßige Verteilung

Das Auseinanderhalten der Arten ist übrigens nichts für Laien: Mit freiem Auge stellt dies auch für Spezialisten eine Herausforderung dar. Sie unterscheiden sich nämlich vor allem in der Kopf-Rumpf-Länge sowie der Länge der Ohren und des Schwanzes in Relation zur Körperlänge. Das sicherste Unterscheidungsmerkmal, die Zahnformel, ist bei lebenden Tieren nicht anwendbar, "aber wir haben es auch ohne geschafft", sagt Mitter.

Wie die Erhebung gezeigt hat, sind die Mäuse keineswegs gleichmäßig in Wien verteilt: Auf 100 Fallen kamen je nach Standort bis zu 55 Tiere. Dabei weisen die drei Apodemus-Arten vom Stadtrand bis zur City ein dreigipfeliges Vorkommen auf: Die Waldmaus dominiert - ihrem Namen zum Trotz - in der Inneren Stadt, während die Gelbhalsmaus schwerpunktmäßig vor allem an der Peripherie anzutreffen ist. Die wenigen Exemplare der Zwergwaldmaus, die gefangen wurden, fanden sich sowohl im Zentrum als auch am Stadtrand. Allgemein wurden größere Parks gegenüber kleineren bevorzugt - und das offenbar mit gutem Grund: In Grünflächen unter 50 Hektar waren die Körpergewichte der Mäuse deutlich geringer als in ausgedehnteren Anlagen.

Stress in den fetten Jahren

Wie viele Waldmäuse es in Wien insgesamt gibt, lässt sich nicht sagen, weil sich der Bestand von Jahr zu Jahr stark ändert. Die Tiere durchlaufen alle paar Jahre Massenvermehrungen, die zwar hormonell gesteuert sind, je nach Lebensraum, Nahrungsangebot und Witterung aber zu unterschiedlichen Zeiten auftreten. In Waldgebieten gehen sie gewöhnlich mit den Mastjahren von Buchen oder Eichen einher, und auch in der Stadt gibt es Bäume und Sträucher, die in gewissen Abständen große Mengen an Samen und Früchten produzieren, die die Mäuse gern fressen.

Die "Bevölkerungsexplosion" in solchen "fetten" Jahren legt aber gleichzeitig den Grundstein für ihr eigenes Ende: Sie stellt einen massiven Stressfaktor für die Mäuse dar, der letzten Endes den Zusammenbruch der aufgeblähten Populationen begünstigt. Städtische Beutegreifer wie Turmfalken, Waldkauz oder Steinmarder, zu deren Hauptnahrung Mäuse zählen, profitieren von diesem Massenauftreten zwar, können es aber nicht beeinflussen.

Das Problem dürften die Waldmäuse in Wien heuer nicht haben. "Der lange Winter und der nasse Mai haben die Populationen sicher substanziell reduziert", erklärt Anita Gamauf. "Kalte und nasse Witterung vertragen die Mäuse nämlich sehr schlecht." (Susanne Strnadl, DER STANDARD, 19.6.2013)