Man will sich das alles gar nicht vorstellen, und Loyalität hat natürlich ihren Preis. Aber die sprachbildnerische Schöpfungskraft einer glühenden Anhängerin des türkischen Regierungschefs Tayyip Erdogan hat auch die Reporterin von Beyaz TV bei der Massenkundgebung des mächtigen Mannes in Istanbul am vergangenen Sonntag verstört. "Ich bin das Haar in seinem Hintern", hatte die Dame aus Anatolien geschwärmt und wollte damit ihre – wie soll man sagen – Verbundenheit mit dem Premier in Zeiten des marginalen, von Außen gesteuerten Protests im Land zum Ausdruck bringen: "Götünün kılıyım!"
Die Formel fand sogleich hier und da spöttelnden Widerhall im Internet, aber die zwingende sozio-kulturelle Verbindung nach Mitteleuropa wurde bisher völlig übersehen. Schließlich eröffneten Helmut Qualtinger und André Heller bereits 1979 ihren Zuhörern in gemütvoller Wiener Weise: "Bei mir seid's alle im Oasch daham." Die Interpreten wollten damals bereits ihr Weltbild von einer gewissen Behaglichkeit näherbringen, das auch aus den Worten des anatolischen Mütterlein spricht. Aber eine Grundskepsis am Menschen schimmerte doch auch durch die Liedzeilen von Qualtinger/Heller, die in dem Bekenntnis gipfelt: "Und i bin dem Oasch sein Abzeß."
Das "Oasch"-Lied gilt als eine Persiflage auf die Wiener Grantler-Mentalität, einer trüben Einstellung, die sich keinesfalls in der Jetzt-erst-recht- und Hier-geht's-lang-Veranstaltung von Tayyip Erdogan im Istanbuler Viertel Kazlicesme findet. Die Welt oder – wenn es denn sein soll – der Regierungschef als Gesäß muss man dennoch als eine Denkkonstruktion der Macht begreifen ("Was z'erscht kummt, bin i. Dann kumm wieder i. Und was dann kummt, kummt nie"). Hier wird dem Einzelnen sein Platz zugewiesen. Stellt sich nur noch die Frage, wer in der Türkei nun das Wimmerl am Hintern ist.
(Markus Bernath, derStandard.at, 18.6.2013)