Hilma af Klint auf der Suche nach den Formen des Absoluten: "Der Schwan, Nr. 17, Gruppe IX", 1914/15, Öl auf Leinwand.

Foto: Dahlström

Eine Ausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin wirft spannende Fragen nach den Wurzeln der Moderne auf. Ein malerisches Plädoyer für die Offenheit.

Mystik und Moderne, das passt auf den ersten Blick gar nicht zusammen. Und doch gibt es einen gemeinsamen Fluchtpunkt. Genau besehen liegt die Sache geradezu auf der Hand: Wenn sich ein religiöses Gemüt so tief in die Geheimnisse des Seins oder Gottes vertieft, dass die Begriffe ihren Dienst versagen, dann bleiben nur noch Bilder - oder nicht einmal diese. Und dann wird es abstrakt.

So kommt man also auf einem Umweg auch zu einer Idee der Nichtgegenständlichkeit, wie sie so zentral für die Kunst des 20. Jahrhunderts wurde. Die schwedische Künstlerin Hilma af Klint (1862- 1944), die derzeit vielfach wiederentdeckt wird, ist für diese Spannung ein perfektes Beispiel. Eine Schau im Hamburger Bahnhof in Berlin läuft unter dem programmatischen Untertitel "Eine Pionierin der Abstraktion". Dabei steht für die Kunstgeschichte eine Menge auf dem Spiel. Denn eigentlich ist das alles längst kanonisiert und fest etabliert, wie sich die Malerei von den natürlichen Formen löste und ihre eigenen "Sprachen" entwickelte.

Emanzipation vom Markt

Dass man da in Schweden eine Künstlerin vom Rang eines Malewitsch oder Mondrian übersehen haben könnte, wäre eine Blamage - und würde auch alte Diskussionen wiederbeleben, ob denn der Blickwinkel noch immer zu einseitig westlich-zentristisch ist. Zugleich fällt die Werkschau von Hilma af Klint in eine Saison, in der Massimiliano Gioni bei der Biennale in Venedig die Amateure rehabilitiert hat und damit so etwas wie die Kategorie des "Naturtalents". Da passt eine Künstlerin, die testamentarisch verfügte, dass ihre Werke bis 20 Jahre nach ihrem Tod nicht gezeigt werden dürfen, perfekt ins Bild - radikaler kann man sich dem Markt nicht entziehen und sich gleichzeitig dem posthumen Urteil der Kunstgeschichte anvertrauen.

Die Ausstellung in Berlin nimmt in ihrem Verlauf die Ansage des Titels bis zu einem gewissen Grad auch wieder zurück. Denn was im Parterre des Hamburger Bahnhofs mit einem der Evolution gewidmeten Zyklus aus den Jahren um 1908 beginnt, endet schließlich im ersten Stock nach einem Raum mit großformatigen Gemälden, die den Kern des Arguments von der frühen Abstraktion ausmachen, bei zwei abschließenden Stationen. In beiden Fällen haben wir es im weitesten Sinne mit Triptychen zu tun. Das erste spielt mit Quadrat- und Kreisformen und der für die Künstlerin typischen Farbigkeit, doch findet sich auch hier inmitten der geometrischen Kompositionen ein Schneckenmotiv, also eines jener Natursymbole, auf die sie immer wieder zurückkam. Das zweite Triptychon bildet den eigentlichen Abschluss - ein eigener Raum, ein auratisches Extrazimmer. Es handelt sich dabei um drei Altarbilder, deren religiöse Zeichenhaftigkeit eines Aufstiegs zur perfekten Form der Kugel (im Bild: des Kreises) überdeutlich ist.

Die Schau macht auf diese Weise deutlich, wie offen letztendlich der Begriff der Abstraktion auch ist. Man wird etwa wieder daran erinnert, dass schon der goldene Schnitt eine Metrisierung von organischer Erscheinung darstellt. Tatsächlich gibt es neben den zahlreichen Blüten, die Hilma af Klint vor allem in ihren ganz großen Tableaus arrangiert hat, aber auch einige Momente, in denen dieses theosophisch, also von religiösen Einweihungslehren inspirierte Werk sich von den Mentalbildern des Unsichtbaren emanzipiert und auf eine tatsächlich moderne Weise seriell wird. Da sprechen dann die Bilder mit Bildern, ohne sich auf ein unbewusst Gewusstes zu beziehen. Da wird dann plötzlich ein Bild, das nicht weniger als die christliche Religion darstellen möchte, zu einem Höhepunkt an Abstraktion von jeglichem Glaubensinhalt.

So läuft diese interessante Ausstellung, die in manchen Kritiken, die derzeit erscheinen, vielleicht auch ein wenig überstrapaziert wird, um es einmal mehr der armen Moderne heimzuzahlen, gerade auf einen Modellfall derselben hinaus: Klints Werk ist ein Testbild für eine Ununterscheidbarkeit von Mystik und Modernität, die sich in einen Versuch auflöst, vor der Geschichte zu bestehen, indem man sich ihr entzieht. (Bert Rebhandl aus Berlin, DER STANDARD, 20.6.2013)