Helle Aufregung in den Medien: ein neuer Abhörskandal! Wie konnte das vor unseren Augen passieren? Wurden EuropäerInnen abgehört? Gar JournalistInnen oder EntscheidungsträgerInnen? ProponentInnen der Zivilgesellschaft? NGOs?

Ich muss angesichts dieser geradezu pathetischen und in meinen Augen höchst naiven Bestürztheit bitter lächeln. Wurden wir abgehört? Nona! Weit mehr als nur Terrorverdächtige? Worauf wir einen lassen können! Und das wohlgemerkt seit mindestens drei Dekaden.

Wie konnte das passieren? Ganz einfach: Es war uns offenbar keine Diskussion wert. Den meisten erfolgreich mit massenmedialem Unterhaltungsschrott hypnotisierten BürgerInnen etwa aus Mangel an Denkanstößen. Hartnäckiger und gewiefter Aufdeckerjournalismus hat sich dem Thema gegenüber bisher leider verschlossen gezeigt, wie auch unsere offenbar ignoranten und schlecht gebrieften PolitikerInnen.

Deutschland und Frankreich wurden im EU-Ratsgebäude im Jahr 2003 bereits abgehört. Wer außer der CIA hatte die logistische Möglichkeit und Technologie, das zu bewerkstelligen? Wissen wir nicht. Noch immer nicht und wohl auch nie. Meine Anfrage vor einiger Zeit ergab nach mehr als einer Dekade: "No comment due to ongoing investigation." Ob die Technologie Aufschluss darüber gab, wer dahinterstecken könnte? "No comment." Das wissen wir nach mehr als zehn Jahren ebenso wenig oder soll zumindest die Öffentlichkeit nicht wissen. Es wird jedoch bemerkenswerterweise auch nicht halb so viel durch die Medien nachgefragt, als ginge es um die neueste Peinlichkeit im Hause Lugner.

Oder der Abhörskandal in Griechenland 2004: Vodafone wurde damals zu einer Millionenstrafe verdonnert. Ein Techniker, der dahintergekommen war, dass monatelang Minister, Geheimdienst, Parlamentarier und viele andere mit geklonten SIM-Karten abgehört wurden - die Spuren deuteten damals ebenfalls zur US-Botschaft -, verübte unter mysteriösesten Umständen Selbstmord. Danach wurde mehr als ein Jahr lang erfolgreich vertuscht. Nur "Paroli", ein kleines und ausgezeichnetes Onlinemedium in Österreich, hat den Fall vor kurzem wieder aufgegriffen. Die Hintermänner (oder -frauen) sind bis heute ungeschoren geblieben, obwohl der Elektronikkonzern Ericsson im Prozess behauptete, dass der britische Geheimdienst MI6 Vodafone dazu angestiftet habe ...

Haarklein dasselbe übrigens nochmals in Italien: eine großangelegte Abhöraktion - am 21. Juli 2006 begeht Amedeo Bove, Security Manager der Telecom Italia, daraufhin in Neapel ebenfalls Selbstmord. Ein Techniker, der im Zuge einer angeblichen CIA-Abhöroperation zufällig an Insiderinformation kommt, "springt" von einer Autobahnbrücke. Ob er sich in seiner Verzweiflung davor noch selbst einige Male mit einem Messer in den Rücken gestochen hat, ist leider nicht überliefert, darf jedoch getrost angenommen werden. Niemand geht ins Gefängnis, niemand verfolgt das hartnäckig weiter, steigt auf die Barrikaden oder lässt gar diplomatische Konsequenzen folgen. Wäre aber wohl angesichts der omnipotenten und aalglatten Aura von Geheimdiensten und Militärs auch relativ fruchtlos.

Die Veröffentlichung der diplomatischen US-Depeschen auf Wikileaks dank Bradley Manning: Die Demokratie hätte durch diese Informationen, die hinter der Propaganda mit "Embedded Journalists" versteckt waren, zumindest eine Chance gehabt, wichtige Fragen zu stellen. Der Whistleblower wird jedoch weiterhin mit Einzelhaft gefoltert. Und eine diplomatische Protestwelle wäre in den noblen Rängen der Macht offenbar schon wieder ein wenig peinlich und mehr als zu viel verlangt. Keine offiziellen Klagen oder Boykottdrohungen gegen Kreditkartenfirmen oder Paypal, weil sie die Weitergabe von Spenden an Wikileaks nach massivem Druck der US-Behörden unterlassen. Nötigung? Wettbewerbsverzerrung? Hier schweigt die WTO. Der Militärapparat darf das, denn er wird eh von einem achtköpfigen Ausschuss ständig wechselnder Parlamentarier dreimal im Jahr "überwacht". Nur, die sind dann selbst zur Geheimhaltung verpflichtet, wenn ihnen etwas faul vorkommen würde. Wie überaus praktisch ...

Und jetzt "Prism", von dem wir überhaupt nur dank Edward Snowden etwas wissen. Dem nächsten Märtyrer der Bürgerrechte, der, nach einer Belagerung in einer Botschaft oder einem Hotelzimmer versteckt, jeden Moment fürchten muss, für immer in einem Verlies zu verschwinden oder davor durch einen untergriffigen Vorwurf noch seinen Ruf ermordet zu bekommen.

Wer seit der "Bourne-Identität" glaubt, dass David tatsächlich ohne Hilfe gegen Goliath gewinnt, sollte bitte endlich erwachsen werden: Diesen Bannerträgern unserer freiheitlichen und liberalen Gesellschaft nicht zu Hilfe zu eilen ist nichts weniger als kriminell unterlassene Hilfeleistung.

Es ist längst überfällig, dass sich irgendein Massenmedium dieser demokratiepolitisch höchst brisanten Thematik endlich einmal wirklich, in einem mehrwöchigen Spezialfeature, tiefschürfend annimmt. Denn wer noch immer denkt, dass dieser "aktuelle Skandal" ein "Ausrutscher" einer ansonsten wohlüberwachten Großmacht oder eines ohnehin nur von Verschwörungstheoretikern herbeifabulierten "militärisch-industriellen Komplexes" sei, den kann man mit einem Verweis auf "Echelon" (das uns und die Industrie seit den 80er Jahren ausspioniert) und die "Joint Vision 2020" der US-Streitkräfte, die erklärtermaßen "Full-spectrum Dominance" zu erlangen trachten, wirklich nur noch auslachen.

Die demokratische Kontrolle dieser Systeme ist längst verloren gegangen. Nur wer dieses Faktum akzeptiert, wird in der Lage sein, die richtigen Schritte zu setzen. Zivilgesellschaftlich, politisch, aber auch diplomatisch. Viel Zeit haben wir wohl nicht mehr. In einigen Jahren sitzen dann vielleicht schon Parlamentarier, die sich aus Anlass geleakter Geheimdokumente nachzufragen trauen, auf unbestimmte Zeit als Verräter nach dubiosen Terrorparagrafen in einer Militär-Einzelzelle. Good night, and good luck, schöne neue Welt. (Joachim Schreiber, Leserkommentar, derStandard.at, 1.7.2013)