120 Jahre sind keine lange Zeitspanne. Das zeigt sich, liest man die Aufzeichnungen der amerikanischen Journalistin Nellie Bly, die nun in deutscher Erstausgabe erschienen sind: Around the World in 72 Days - schneller als der Held aus Jules Vernes Reise um die Erde in achtzig Tagen umrundete die 25-Jährige von 1889 bis 1890 im Auftrag der New Yorker Tageszeitung The World den Globus. Was abenteuerlich klingt, erweist sich in seinen Zumutungen als so banal wie heutig: Im Eisenbahnwagon von Boulogne nach Amiens etwa, wo sie Monsieur und Madame Verne treffen wird, muss die tollkühne Touristin den Fußwärmer mit anderen Passagieren teilen. Schiffe verspäten sich, und das Essen ist oft ungenießbar.
Auch dass sie als junge Frau allein die Welt bereist, ist nicht das emanzipatorische Wagnis, als das es anmutet. Bly reist vor allem als Vertreterin ihrer Klasse und als Mediensensation - die World vermarktete ihre Reise im großen Stil. Schifffahrtsbeamte werden angewiesen, den Rekordversuch zu unterstützen. Maschinisten schreiben auf ihre Maschinen: "Für Nellie Bly, wir siegen oder sterben dabei." Es geht um den Potenzbeweis des modernen Menschen, der sich die Welt untertan macht - und der eben zufällig von einer Frau erbracht wird. Männer zeigen maximal Heiratsabsichten oder Sorge um "die Sicherheit eines schutzlosen Mädchens". Tatsächlich kommt diese "Schutzlose" zwar um die ganze Welt - eine Grundbedingung des Reisens aber, die Begegnung mit dem Fremden, erfüllt sie nie: Neben England, Frankreich, Italien, Ägypten, Japan und den USA durchreist sie ausschließlich britischen Kolonialbesitz. Sie spricht keine andere Sprache als Englisch, Einheimische nimmt sie nur als Dienstleister oder (meistens schmutzige und/oder stinkende) Kuriositäten wahr.
Wenn sie so unbekümmert die Überlegenheit der westlichen Welt propagiert, merkt man, dass sich in 120 Jahren doch einiges geändert hat. Bly hatte zwei Jahre zuvor mit ihrer Undercovergeschichte Zehn Tage im Irrenhaus gezeigt, dass sie sich mitfühlend mit ihren Mitmenschen befasst - vorausgesetzt, sie nimmt sie als solche wahr. Ihre Reiseaufzeichnungen stehen dazu in keinem Widerspruch. Es sind die unhinterfragten Herrenmenschenfantasien des westlichen Imperialismus, der penibel trennt zwischen solchen und solchen.
Zweimal überlegt Bly, kleine Kinder zu "erstehen". Chinesen verunglimpft sie pauschal als jenes Volk, dem "alle Laster der Welt" zuzuschreiben seien. Den Engländern, die "alle begehrenswerten Seehäfen an sich gerissen" hätten, begegnet sie hingegen voller Bewunderung. Literarisch sind ihre Aufzeichnungen nur bedingt wertvoll. Allzu oft reiht sie fahrig Anekdoten aneinander, ohne in die Tiefe zu gehen, und garniert sie mit nichtssagenden Adjektiven. Lesenswert sind sie dennoch: als Zeugnis eines vor nicht allzu langer Zeit noch herrschenden menschenverachtenden Weltverständnisses. (Andrea Heinz, Album, DER STANDARD, 22./23.6.2013)